Süddeutsche Zeitung

Drama:Wie vor einem Spiegel

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Was macht die Arbeit eines Kranführers aus und was die Arbeit eines Schauspielers? Der großartige Vincent Lindon spielt einen Arbeitslosen in Stéphane Brizés "Der Wert des Menschen".

Von Fritz Göttler

An welchen Maschinen er gearbeitet habe, wird Thierry Taugourdeau im Bewerbungsgespräch gefragt - an Cornwell, erwidert er, später dann an Kieran. Und an welcher HMI-Version, die 7 oder die 8? Die 7, sagt Thierry, bis zur Schließung hatte die Fabrik, wo er beschäftigt war, nur mit der Version 7 gearbeitet.

Man sucht einen Werkzeugmaschinenprogrammierer, und Thierry wurde vorgeschlagen vom Jobcenter. Das Bewerbungsgespräch erfolgt per Skype, man sieht Thierry am Tisch sitzen, in Seitenansicht, vor dem Laptop. Den Personalchef kriegt man nicht zu sehen, er ist nur mit seiner zögerlichen Stimme präsent. Thierrys Antwort befriedigt ihn offenbar nicht, dennoch fragt er weiter. Ob Thierry sofort anfangen könnte. Ob er mit einer niedrigeren Position als in seiner vorigen Firma zufrieden wäre. Und mit weniger Bezahlung. Thierry bejaht all dies. Dann noch eine persönliche Bemerkung aus dem Off - der Lebenslauf, den Thierry geschickt hätte, könnte, nun ja, er könnte etwas besser geschrieben sein. Zum Abschluss dann: Es sei wohl eher unwahrscheinlich, dass Thierry die Stelle kriegen würde.

Über ein Jahr ist Thierry Taugourdeau schon ohne Job, der Film "Der Wert des Menschen" skizziert den Zustand der Arbeitslosigkeit in einem Dutzend Szenen, die das Gesetz des Marktes dokumentieren und - in ihrer Banalität, Peinlichkeit, Absurdität, Tragik - durchaus Alltag einer großen Zahl Arbeitsloser sind. Thierry beim Bewerbungsgespräch, Thierry auf dem Arbeitsamt - ja, es war vielleicht wirklich sinnlos, ihn zum Kranführer umzuschulen, wo doch klar ist, dass keiner als Kranführer angestellt wird, der noch nie auf dem Bau gearbeitet hat. Thierry in der Bank - nein, er und seine Frau dächten nicht daran, die Wohnung zu verkaufen, sie ist das Einzige, das sie haben und in wenigen Jahren ist sie abgezahlt, Thierry beim Versuch, einen Ausbildungsplatz für den behinderten Sohn zu organisieren.

Vincent Lindon ist Thierry Taugourdeau, es ist der dritte Film, den er zusammen mit dem Regisseur Stéphane Brizé gemacht hat. Der erste, den Brizé in den Wettbewerb von Cannes gebracht hat. "La loi du marché/Der Wert des Menschen" vertraut dem, was Lindon als Actionstar groß gemacht hat im französischen Kino - seiner Präsenz. "Es war nötig, dass ein extrem etablierter Schauspieler diesen Film durchquert", sagt Stéphane Brizé, "Vincent Lindon schafft durch seine Präsenz Fiktion im Cinemascope-Rahmen des Films."

"Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum, sondern vor einer Apparatur."

Das Bewerbungsgespräch per Skype ist gefilmt wie ein Monolog, Vincent Lindon hockt vor dem aufgeklappten Bildschirm wie vor einem Spiegel. Es gibt kein Gegenüber. Von der Arbeit des Schauspielers im Kino handelt Walter Benjamins Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", vom Zusammenhang zwischen der Arbeit des Schauspielers und der Arbeit seines Publikums - die durch die voranschreitende Mechanisierung am laufenden Band zu einer Serie von Prüfungen und Tests wird, in denen der Arbeiter als geeignet bewertet oder ausgeschaltet zu werden droht. "Diese Prüfungen sind . . . nicht im wünschenswerten Maß ausstellbar. Und genau dies ist die Stelle, an welcher der Film eingreift. Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht. Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum, sondern vor einer Apparatur."

In "Mademoiselle Chambon", seinem ersten Film für Stéphane Brizé, ist Vincent Lindon ein Maurer, der sich in die junge Lehrerin seines Sohnes verliebt, Mademoiselle Chambon, gespielt von Sandrine Kiberlain. Auf der Geburtstagsfeier für seinen Vater spielt sie auf der Violine "Salut d'amour" von Edward Elgar, und in dem nahezu unbewegten Gesicht von Lindon wird diese Liebe bestürzend offensichtlich.

Alle anderen Akteure in "Der Wert des Menschen" sind Laien, sie tragen die eigenen Namen, haben die gleichen Arbeiten und Positionen wie in Wirklichkeit, benutzen ihre Berufssprache und die dazugehörigen Gesten. Sich mit dieser Präsenz auseinanderzusetzen, darin besteht die Arbeit des Profischauspielers Vincent Lindon, sagt Brizé: "Er findet sich in einer Situation großer Fragilität und Anfälligkeit. Wenn er versierter ist als Schauspieler, sind sie versierter in ihren Arbeiten, und daraus ergibt sich eine Art Gleichgewicht."

Thierry Taugourdeau bekommt dann einen Job, als Sicherheitsmann in einem Supermarkt. Nun muss er Ladendiebe ertappen, durch exzessiven Einsatz von Überwachungskameras, vor allem aber muss er sehen, wer von den Angestellten durch kleine Rabattmarken-Schummeleien die Firma schädigt. Nun trägt er einen dunklen Anzug, wirkt soigniert. Die ertappten Frauen werden gnadenlos zur Rede gestellt, sie schweigen oder verteidigen sich leise gegen kleinliche Argumente, bewahren ihre Würde gegen die Apparatur der Gesellschaft.

La loi du marché, F 2015 - Regie: Stéphane Brizé. Buch: Stéphane Brizé, Olivier Gorce. Kamera: Eric Dumont. Mit: Vincent Lindon, Karine de Mirbeck, Matthieu Schaller, Yves Ory, Xavier Mathieu, Françoise Anselm . Temperclayfilm, 93 Minuten.

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SZ vom 17.03.2016
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