Süddeutsche Zeitung

Drama:Die Farbe der Erinnerung

Lesezeit: 2 min

Das Familiendrama "Unsere kleine Schwester" von Hirokazu Kore-eda ist große japanische Kinokunst.

Von Fritz Göttler

Eine schöne Farbe, sagt die Mutter. Sie hält die kleine Flasche gegen das Licht, Pflaumenwein, ein blasses Rot, durchscheinend fast. Es ist der letzte, der vor vielen Jahren noch von der Großmutter gemacht worden war, später hat ihn dann die Mutter immer mit ihren Töchtern angesetzt. Sie mochte diese Arbeit nicht, aber wenn sie fertig damit war, wusste sie: Nun kommt der Sommer. Die älteste Tochter hat ihr den Pflaumenwein schnell von zu Hause gebracht, an den Bahnhof, denn die Mutter ist schon wieder auf dem Weg zurück nach Sapporo, sie lebt schon lange nicht mehr mit den Töchtern zusammen. Auch der Vater ist fortgezogen, zu einer anderen, hat die drei Schwestern allein zurückgelassen. Eine Serie von Trennungen, die eine Jahreszeit von der andern, die Eltern von den Kindern, der Mann von der Frau, die eine Existenz von der andern. Aber darüber hinweg, so die Hoffnung, wird immer auch etwas überdauern. Das durchscheinende Rot ist die Farbe der Erinnerung.

Bei der Einäscherung des Vaters haben die drei Schwestern mitbekommen, dass er mit seiner neuen Frau noch eine weitere Tochter hatte, und kurz entschlossen haben sie diese, "unsere kleine Schwester", aufgefordert, doch zu ihnen zu ziehen, nach Kamakura, der kleinen Stadt am Meer. Ein altes Haus mit Veranda, Büsche und Bäume, eine Wäschestange. Eine Schwester arbeitet im Krankenhaus, die andere in einer Bank, mal schläft die älteste bei ihrem Freund und kommt erst zum Frühstück heim. Ein Leben der Unabhängigkeit, zwischen Verpflichtung und Verantwortungslosigkeit. Die Eisenbahnzüge, wenn sie durch die Landschaften zockeln mit einem einzigen Waggon, sind wie alte Postkutschen in der Zeit moderner Massentransportation.

Die Menschen in den Filmen von Hirokazu Kore-eda sind Asoziale - indem sie die sozialen Systeme nicht als präexistent und dominant anerkennen. Die Eltern ziehen los und lassen die Kinder zurück, so kennt man das sonst nur aus den alten Märchen. Die familiären Strukturen sind immer rudimentär, so war das schon in den Filmen von Yasujirō Ozu in den Fünfzigern und Sechzigern, die Hirokazu Kore-eda als Vorbild dienen. Die Rollen changieren, mal gibt sich eine der Schwestern mütterlich, aber zusammen sind sie einfach Buddies. "Umimachi Diary" heißt der Film im Original, nach dem Comic von Akimi Yoshida, "Tagebuch einer kleinen Stadt am Meer". Kore-eda filmt das Leben der Stadt und der Schwestern in ruhigen, dezentrierten Einstellungen, mit heiterer, haikuhafter Gelassenheit. "Der Realität wird Bedeutung versagt", heißt es bei Roland Barthes zum Haiku, "mehr noch: Die Realität verfügt nicht einmal mehr über eine Bedeutung von Realität."

Umimachi Diary, Japan 2015 - Regie, Drehbuch, Schnitt: Hirokazu Kore-eda. Nach dem Comicroman von Akimi Yoshida. Kamera: Mikiya Takimoto. Musik: Yoko Kanno. Mit: Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose . Pandora, 128 Minuten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2793548
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.12.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.