Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilm:Wie man ein Monster wird

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Der französische Schriftsteller Jonathan Littell, Autor der "Wohlgesinnten", hat in seinem Filmdebüt ehemalige Kindersoldaten aus Uganda porträtiert.

Von Martina Knoben

In welchem Maß ist jemand für Verbrechen verantwortlich, die er wohl nie begangen hätte, wenn er nicht als Kind in die falschen Hände geraten wäre? Und wie viel Bestand hat die Idee des Humanen, wenn sich "Menschlichkeit" weniger einer Entscheidung als einem Zusammenspiel günstiger Umstände verdankt? Das sind zentrale Fragen in "Wrong Elements", dem dokumentarischen Filmdebüt des französischen Schriftstellers Jonathan Littell. Er porträtiert vier ehemalige Kindersoldaten aus Uganda - Nighty, Geofrey, Mike und Lapisa -, die als 12- oder 13-Jährige von der LRA, der Lord's Resistance Armee des Joseph Kony, entführt wurden. Sie leben heute wieder bei ihren Familien, wurden trotz der Verbrechen, die sie begangen haben, begnadigt. Littell zeigt ihren Alltag, lässt sie von ihrer Zeit im Busch erzählen und Erlebnisse nachspielen.

Dass ausgerechnet ein europäischer Schriftsteller afrikanische Vergangenheitsbewältigung dokumentiert, sie sogar vorantreiben will mit seinem Filmprojekt, irritiert. Zumal Littell nicht irgendein Autor ist. Sein Roman "Die Wohlgesinnten", 2006 in Frankreich erschienen und mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, spaltete die Leser: Viele feierten ihn als Sensation, andere verabscheuten ihn. Littell erzählt darin aus der Perspektive eines SS-Offiziers von den Verbrechen des Holocaust - so detailreich, distanzlos und überwältigend, dass ihn der Kritiker dieser Zeitung einen "schlauen Pornografen" nannte. Skepsis ist also angebracht, wenn sich Littell nun mit schuldig-unschuldigen Kindersoldaten beschäftigt.

Umso größer die Erleichterung, dass "Wrong Elements" nichts Voyeuristisches oder Sensationslüsternes hat. Scheußliche Verbrechen kommen zur Sprache, aber auf eine Weise, die sich in keinem Moment schaudernd genießen lässt. Konys Widerstandsarmee des Herrn entführte in rund 25 Jahren Bürgerkrieg mehr als 60 000 Kinder, machte die Jungen zu Soldaten und die Mädchen oft zu Sexsklavinnen verdienter Kämpfer. Im Dienst der Mördertruppe wurden auch die Entführten zu Mördern. Mehr als die Hälfte starb im Dschungel.

Wenn Nighty, Geofrey oder Lapisa erzählen, ist es, als beträte man eine Parallelwelt. Nighty kennt noch die Namen der Geister, die durch den Rebellenführer Kony sprachen: Who Are You, Salindi, Zinck Bricky, Sinaska. Die Geister hätten ihren Anführer vor feindlichen Angriffen gewarnt, erzählt Nighty. Meistens aber befahlen sie zu töten. Geofrey erzählt, dass der erste Mensch, den er getötet habe, eine Frau gewesen sei; er hätte keine Wahl gehabt. "Danach habe ich mich an das Töten gewöhnt, es war kein Verbrechen mehr. Als wäre ich von Geistern besessen." Heute fährt Geofrey ein Motorradtaxi und lacht viel. Nur als er beim "Nachspielen" des Buschlebens ein von Termiten zerfressenes altes Gewehr findet, es mit geübtem Griff hochreißt und auf seinen Freund Mike zielt, ahnt man die Gewalt, die in diesem äußerlich sanften Mann schlummert.

Das "alte" Kinoformat 4:3 stellt Nähe her, aber auch Distanz

Die ehemaligen Kindersoldaten selbst vergleichen ihr Heranwachsen in der Mörderarmee mit der Erziehung von arabischen Jugendlichen zu Selbstmordattentätern - die Fragen, die der Film aufwirft, sind universell. Littell hat jahrelang für die NGO "Aktion gegen den Hunger" gearbeitet, in Bosnien, Tschetschenien, Afghanistan und im Kongo, hat in Zeitungsreportagen über die Kriege in Georgien, dem Kongo und Syrien berichtet. Sein Thema ist die institutionalisierte Gewalt.

Bei seinem Filmdebüt hat sich der Autor für das "alte" Kinoformat 4:3 entschieden. Es stellt optisch eine große Nähe zu den Porträtierten her. Gleichzeitig rückt die ungewohnte Guckkastenenge diese aber auch auf Distanz. In der Bewegung zwischen Ferne und Nähe, Gegenwart und Vergangenheit, besteht die Stärke des Films. Dass am Ende die Distanz überwiegt, auch durch die Barockmusik, die Littell über manche Bilder legt, ist ehrlich, weil kein Europäer die Erfahrungen der ugandischen Kindersoldaten wirklich nachfühlen kann. Und sie ist nötig, um nicht auch als Zuschauer des Films von ihren Erzählungen überwältigt zu werden.

Deshalb sind auch die Zeit- und Ortsangaben, die Littell immer wieder als Inserts einblendet, wichtig. Die gern "unvorstellbar" genannten Verbrechen, an denen seine Protagonisten beteiligt waren, lassen sich eben doch beschreiben und imaginieren, sie sind an konkrete Orte und Zeiten gebunden. Genauigkeit ist wichtig bei der Benennung von Verantwortung.

Wie schwierig das ist, zeigt das Beispiel von Dominic Ongwen. Auch er wurde als Kind von der LRA entführt, stieg zu einem Anführer der Rebellen auf und wird mittlerweile vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt. Littell zeigt ihn bei seiner Gefangennahme. Für den Rest der Welt ist er ein Kriegsverbrecher - Geofrey und Mike aber, die Littells Aufnahmen sehen, erkennen in ihm einen von ihnen.

Wrong Elements , F/D/B/ 2016 - Regie, Buch: Jonathan Littell. Kamera: Joachim Philippe, Johann Feindt. Schnitt: Marie-Hélène Dozo. Neue Visonen, 133 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 28.04.2017
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