Süddeutsche Zeitung

Bildwissenschaften:Eine Geschichte der Schönheit

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Viele unserer Gesten und Bilder gehen auf die Antike zurück. Nun soll ein neuer Digital-Thesaurus diese Nachwirkungen in der Barock- und Aufklärungszeit für die Forschung erschließen.

Von Johan Schloemann

Poser aufgepasst: In fast jeder Geste, jeder Darstellung von Bewegung lässt sich ein antikes Motiv erkennen. Manches davon ist zwar universell menschlich, vieles aber geprägt davon, wie einmal Künstler des Altertums den menschlichen Körper und seine Kleidung geformt haben. Muskeln, Haltungen, Faltenwurf.

Die Dauer und Veränderung solcher Motive war eine Leidenschaft des Kunsthistorikers Aby Warburg. Doch während der in seinem "Bilderatlas Mnemosyne" noch eifrig herumkleben musste und damit bis zu seinem Tod 1929 nie ganz fertig wurde, können heute vernetzte digitale Bildarchive das visuelle kulturelle Gedächtnis erkunden. Aber noch immer muss der "Ozean von Bilderquellen", wie es die an der Universität Halle-Wittenberg lehrende Germanistin und Kunsthistorikerin Élisabeth Décultot formuliert, für die Kunstgeschichte sinnvoll kanalisiert werden.

Zu diesem Zweck hat Décultot zusammen mit ihren prominenten Kollegen Arnold Nesselrath (Rom/Berlin) und Ulrich Pfisterer (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München) begonnen, eine intelligente Datenbank aufzubauen. Sie soll den Namen "Antiquitatum Thesaurus" tragen und wurde nun als Langzeitvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gestartet. Langzeitvorhaben sind, zunächst auf 24 Jahre angelegt, die großen Tanker der historischen Grundlagenforschung.

Wie in der digitalen Gegenwart, nur unter ganz anderen Bedingungen der Wissensverbreitung, wurden alte Kunst- und Bauwerke in der frühen Neuzeit kaum durch Ansicht der Originale vermittelt, sondern durch Medien. Darum soll der neue Thesaurus, lateinisch für Schatzhaus, alle Zeichnungen und Drucke des europäischen 17. und 18. Jahrhunderts nach antiken Artefakten erfassen und diese Bilder mit ihren Originalen sowie Informationen zu deren Wirkung verbinden. Aus dem besagten Ozean sollen etwa 35 000 Datensätze entstehen, und so wird dieses Online-Werkzeug für die Forschung fortsetzen, was das Vorgängerprojekt "Census" für die Zeit der Renaissance leistet.

Stiche, Abbildungen in Büchern und Bilderkompendien haben in der Zeit von Barock und Aufklärung den Vorbildcharakter der "klassischen" Kunst in die Welt getragen - nicht selten in fantastischer Druckqualität - und damit Europas Schönheitsvorstellungen bestimmt. Das war eine Art von Antiken-Instagram, für Liebhaber ebenso wie für die Maler und Bildhauer in den Akademien, auch wenn der Kanon damals noch offener war als im späteren Klassizismus.

Analoge Ahnen der digitalen Sammlungen von heute waren dabei Kompendien wie das monumentale Werk "L'Antiquité expliquée et représentée en figures", das der französische Gelehrte Bernard de Montfaucon von 1719 bis 1724 in Paris herausbrachte. Die Bilder waren damals noch nicht chronologisch kunsthistorisch geordnet, sondern nach Motiven und Lebensbereichen: Religion, Brückenbau und so weiter. Daran kann die Kulturwissenschaft jetzt anknüpfen. Aber um all diese Motive historisch zu erschließen wie die geplante Thesaurus-Datenbank, braucht es mittlerweile eben nicht mehr nur Ästheten und Archivare, sondern auch Prozessoren, Server und Programmierer.

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