Süddeutsche Zeitung

Dieter Wellershoff:Einer, der die deutsche Literatur maßgeblich beeinflusst hat

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Von Meike Feßmann

"Im Dickicht des Lebens" heißen die ausgewählten Erzählungen, die zu seinem 90. Geburtstag erschienen sind. Und diese Metapher entsprach ganz seinem Weltbild. Im Leben geht es nicht übermäßig zuverlässig zu und überschaubar schon gar nicht. Jederzeit redet der Zufall ein gewaltiges Wörtchen mit. Dass Dieter Wellershoff den Zweiten Weltkrieg überlebte, nannte er ein "Zufallsglück" und sprach im Zusammenhang mit seiner Kriegserfahrung sogar von "Dankbarkeit". Der Krieg hat bei Wellershoff, anders als bei Ernst Jünger, keinen Heroismus erzeugt und auch keine Vorliebe für den kalten Stil. Die Genauigkeit der Wahrnehmung war ihm wichtig, aber sie stand im Dienst der Einfühlung.

Auf den Spuren von Goethes "Wahlverwandtschaften" landete er 2000 mit "Der Liebeswunsch" einen Bestseller. Der Roman erzählt vom fatalen Liebesbegehren einer jungen Frau, das die heikle Balance zweier Paare durcheinanderbringt. Marcel Reich-Ranicki schwärmte von diesem Buch. Über die "Literatur des Begehrens" hat Wellershoff viel geschrieben. 2001 erschien "Der verstörte Eros". All die Verführer und Ehebrecherinnen, die Glückssucher und Verlierer der Literatur, von Goethe über Flaubert bis Jelinek und Houellebecq, haben in dieser leidenschaftlichen Essay-Sammlung ihren Auftritt.

Dieter Wellershoff hat die Literatur der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusst - nicht nur als Schriftsteller, der Hörspiele, Erzählungen, Romane, Essays, Drehbücher schrieb, sondern in vielen Rollen. Mehr als 20 Jahre, von 1959-1981, war er Lektor des Kiepenheuer & Witsch Verlags und betreute den bereits etablierten Heinrich Böll, entdeckte aber auch Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born, Günter Wallraff.

Die Kontingenzerfahrung des Zweiten Weltkriegs bestimmte sein Leben

Wellershoff prägte den Begriff "Kölner Schule des Neuen Realismus" und inspirierte eine ganze Generation von Schriftstellern. Er fand im hohen Alter noch einmal zu neuen Formen autobiografischen Erzählens. Schon in seinem Roman "Der Ernstfall" aus dem Jahr 1995 hatte er von seiner Kriegserfahrung erzählt. 2010 erschienen dann im Berliner Supposé Verlag drei CDs. "Schau dir das an, das ist der Krieg" ist eine der prägnantesten Darstellungen eines Kriegsteilnehmers, hoch reflektiert und doch durch die Möglichkeit der mündlichen Darstellung wie in einem Fluss erzählt.

Zum "Hörbuch des Jahres" 2014 wurde das Gespräch mit Klaus Sander, in dem Wellershoff vom "Altern und Sterben" erzählt. "Ans Ende kommen" heißt es und schließt den Kreis. Dort schildert er, wie die Kontingenzerfahrung des Zweiten Weltkriegs sein Leben bestimmt hat, nicht als Trauma, sondern als Ansporn zur Vitalität. Man kann diese CDs auch stellvertretend hören: als Stimme all der Väter und Großväter, die für ihre Erfahrungen keine Worte finden konnten. Die Erschließung der Wirklichkeit in der Intensität einer stellvertretenden Erfahrung war für Dieter Wellershoff die wichtigste Aufgabe der Literatur. Am gestrigen Freitag ist er mit 92 Jahren in Köln gestorben.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2018
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