Süddeutsche Zeitung

"Die Detektive vom Bhoot-Basar":Vor lauter Smog sieht man die Äffchen nicht

Lesezeit: 4 min

Zerlegt alle zauberhaften Indien-Klischees: Der Debütroman der Journalistin Deepa Anappara.

Von Nicolas Freund

Man weiß am Ende nicht, was eigentlich passiert ist, und wahrscheinlich ist es besser so. Der Roman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" von Deepa Anappara erzählt seinen Lesern nicht die ganze Wahrheit, man könnte sogar sagen, er führt sie in die Irre. Aber das ist ganz in ihrem Interesse, denn man möchte die Wahrheit vielleicht gar nicht so genau wissen.

Anappara führt dem Leser ein Indien der Gegensätze vor - aber nicht die schönen Gegensätze, die im Reisekatalog gemeint sind. Luxushochhäuser stehen in einer nicht genau benannten, nordindischen Stadt direkt neben Slums, auf dem Basar vermischt sich der Smog mit den Gerüchen der Chai-Tees und frittierten Süßigkeiten, eine U-Bahn-Fahrt erscheint für die Slumbewohner unbezahlbar, während die Wohntürme wenige Straßen weiter leer stehen, weil ihre Besitzer um die Welt jetten. Die Polizei ist notorisch korrupt, überfordert und unterbesetzt. Wer einen Job im Callcenter hat und nachts einen amerikanischen Akzent imitiert, um Kundenservices für das andere Ende der Welt anzubieten, der gilt als einer, der es geschafft hat.

Diese Welt sieht der Roman durch die Augen eines Kindes. Der fast zehn Jahre alte Jai lebt mit seinen Eltern und der großen Schwester in dem Slum zwischen der Müllkippe, dem Basar und den schicken Hochhäusern, die alle, die dort nicht wohnen, nur Hi-Fi-Wohnungen nennen, obwohl sich längst keiner der Armen mehr nach einer Stereoanlage sehnt, sondern eher nach einem dieser Handys, mit denen man nicht nur telefonieren kann.

Die Autorin Deepa Anappara hat in Neu-Delhi und Mumbai als Journalistin gearbeitet, über die Gewalt und die Armut dort geschrieben, und ihr Debütroman könnte auch eine literarische Reportage aus den Vierteln der Ärmsten Indiens sein: Sie weiß genau, wie die Tagesabläufe in den winzigen Hütten sind, wann alle an den wenigen Toiletten und Waschräumen anstehen, wie abhängig die Bewohner von der Willkür der Polizei sind, wann die Eltern der Kinder kommen und gehen, die manchmal, wie um den Kontrast noch mal überdeutlich zu machen, als Haushälterinnen in den Hochhäusern arbeiten oder die U-Bahnen bauen, die sie sich dann selbst nicht leisten können.

Obwohl sich manche Passagen lesen wie Reportagen, ist das Besondere an Anapparas Roman aber die Perspektive Jais. Denn für das Kind erscheinen die Kontraste zwischen Luxusappartements und Wellblechhütten selbstverständlich, vieles erscheint ihm normal. Wenn er zum Beispiel nebenbei erklärt, der Smog sei so dicht, dass man die Affen auf den Dächern nicht sehen könne, fragt sich der Leser aber doch, was das eigentlich für eine Welt ist, die durch die Augen des Kindes wie ein großer Abenteuerspielplatz wirkt.

Und dann ist nicht einmal mehr sicher, ob wirklich Jai die Geschichte erzählt, denn der Roman schließt im ersten Drittel einen erzählerischen Kreis, in dem ein älterer Junge, der Bandenführer Guru zum Erzähler zu werden scheint. Vielleicht ist es aber auch nicht so wichtig, ob wir hier Jai oder Guru hören, vielleicht ist es genau der Punkt, dass die beiden nicht so eindeutig zu unterscheiden sind, dass das, wovon schließlich berichtet wird, allen Kindern aus den Slums hätte passieren können.

Immer mehr Kinder verschwinden von den Straßen des Viertels, was zunächst niemand richtig ernst nimmt. Kinder laufen ja mal weg, die älteren haben sich vielleicht irgendwo einen Job gesucht, die Mädchen sind womöglich mit ihrem neuen Freund durchgebrannt. Jai und seine Freunde, das Mädchen Pari und der muslimische Faiz, glauben das aber nicht, sie ermitteln auf eigene Faust, lassen den Straßenhund Samosa Fährten suchen, fahren mit von den Eltern geklautem Geld in die Innenstadt und beschatten alle, die ihnen irgendwie verdächtig vorkommen.

Dieser Roman stellt dem Leser geradezu eine Falle, indem er ihn Hunderte Seiten lang in dieser liebenswerten Geschichte, die teilweise aus einem Enid-Blyton-Roman stammen könnte, durch den Alltag der Kinder führt und immer wieder nur kleine Irritation einfließen lässt, den allgegenwärtigen Smog, die kargen Mahlzeiten oder die zerschlissene Kleidung der Kinder.

Deepa Anappara hat nach ihrer Karriere als Journalistin im britischen Norwich an der University of East Anglia Kreatives Schreiben studiert. Den Roman hat sie auf Englisch geschrieben und klar an ein internationales Publikum adressiert. Sie spielt mit manchen Klischees des zauberhaften Indiens, wie es in westlichen Reiseportalen versprochen wird: Äffchen auf dem Basar, bunte Kleidung, nette Straßenkinder und ein duftender Chai-Stand an jeder Ecke.

Diese Klischee kontrastiert sie aber immer krass mit der Armut, die überall herrscht. Der Text ist voller indischer Begriffe wie Bajaj Chetak für Motorroller oder Buddi-ka-baal für Zuckerwatte, die genauso gut hätten übersetzt werden können und dem Leser vorgaukeln, er verstehe etwas von Indien, wenn er diesen Roman liest. Er wird auch etwas verstehen, aber ganz anders, als er es erwartet. Obwohl das Bild auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe es suggeriert, ist "Die Detektive vom Bhoot-Basar" nicht geeignet für Menschen, die Indien schön bunt finden, sich bei kommerzialisiert nach Europa importierten Holi-Festivals für 35 Euro Eintritt mit Farbbeuteln bewerfen und denken, sie hätten damit das traditionelle indischen Frühlingsfest gefeiert.

Denn aus dem Smog und den kitschigen Farben schält sich bald etwas, das der Roman nur andeutet, das aber, wenn der Leser es einmal verstanden hat, schwer erträglich über dem gesamten Text schwebt: Indiens großes Problem mit sexueller Gewalt, vor allem gegen Kinder. Aus der Sicht eines Kindes, das nicht richtig begreift, was da passiert, erzählt Deepa Anappara von einer Welt, in der Kindern jeden Tag Gewalt angetan wird.

Ihr Roman soll westliche Leser daran erinnern, dass Indien nicht nur aus den bunten Festen besteht, deren Bilder fast jeden Tag in alle Welt verbreitet werden. Das ist etwas moralisierend, wird aber nicht mit erhobenem Zeigefinger vorgebracht. Der Roman erzielt seinen verstörenden Effekt mit ästhetischen Mitteln, indem er dem Leser diese brutale Welt so zeigt, wie ein Kind sie wahrnimmt. Das, was eigentlich geschieht, entsteht im Kopf des Lesers - und bleibt dort noch lange nach dem Ende dieser Geschichte.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2020
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