Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Am tödlichen Ufer

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Der Schauspieler Burghart Klaußner hat seinen ersten Roman geschrieben: In "Vor dem Anfang" spürt er seinem Vater nach und erzählt vom Kriegsende in Berlin.

Von Verena Mayer

Der Wannsee. Burghart Klaußner sieht von der Terrasse des Literarischen Colloquiums hinunter auf das graublaue Wasser. Der Wind kräuselt den See, ein paar weiße Segelboote schaukeln im Abendlicht hin und her, eine einzige Idylle. Dass der Schauspieler hier sitzt, hat nicht nur damit zu tun, dass er gleich eine Lesung abhalten wird. Der See ist auch der Schauplatz seines ersten Buches. Nicht der idyllische Wannsee allerdings. Sondern das Seeufer als einer der Orte, an denen bei Kriegsende bis zuletzt gekämpft wurde. An dem Menschen starben, weil sie Soldaten waren oder weil sie auf der falschen Seite standen. Oder auch nur, weil sie irgendjemandem im Weg waren.

So wie die Frau, die von Fritz, dem Protagonisten des Buches, von einem Baum geschossen wird. Einfach, weil Fritz, als er am See unterwegs ist und es in den Ästen rascheln hört, keine andere Reaktion einfällt. Die Frau stürzt zu Boden, es ist eine russische Heckenschützin, die umgekehrt wohl genauso schnell ihre Waffe gezogen hätte. Wer leben darf und wer sterben muss, ist am Wannsee 1945 nur eine Frage des Zufalls.

Das Restaurant seines Vaters wurde zum Promi-Treff der Berliner Nachkriegsgesellschaft

Dass sich hinter jeder Idylle ein Abgrund auftun kann, ist das Hauptmotiv des Buches. "Vor dem Anfang" erzählt vom Chaos der letzten Kriegstage in Berlin. Ein Familienvater namens Fritz, der es lange geschafft hatte, sich durch die Arbeit in einer Gaststätte vor dem Kriegsdienst zu drücken, wird eines Tages von einem Feldwebel losgeschickt, um eine Geldkassette ins Reichsluftfahrtministerium zu bringen. Es ist der Beginn einer Odyssee durch die zerbombte Stadt, vorbei an Kriegsruinen, Verwundeten, Gruppen fliehender SS-Männer, Panzern. Zu Fuß und auf dem Fahrrad verschlägt es Fritz in Schrebergartensiedlungen, auf Waldlichtungen und schließlich an den Wannsee, wo er beschließt, sich mit einem Segelboot davonzumachen. Klaußner zeichnet das Kriegsende als Zustand anarchischen Terrors. Jeder kämpft gegen jeden, alle versuchen, ihre eigene Haut zu retten. Man weiß nicht, wo einen der nächste Schritt hinführt, auf die sichere Seite des Sees oder vor ein Erschießungskommando.

Das Kriegsende als literarisches Setting ist gerade unglaublich populär. Ralf Rothmann rollt in seinem Roman "Der Gott jenes Sommers" die Geschichte eines jungen Mädchens in den letzten Kriegsmonaten in Norddeutschland auf, Arno Geiger erzählt in "Unter der Drachenwand" von einem Soldaten, der in Russland verwundet wurde und die Monate vor dem endgültigen Zusammenbruch in einem Dorf im Salzkammergut verbringt. Allen diesen Romanen ist gemeinsam, dass das Jahr 1945 nicht mehr als Stunde null gedeutet wird, als - wenn auch katastrophaler - Neubeginn, sondern als eines von vielen Kapiteln einer historischen Apokalypse.

Einen Tag nach seiner Lesung kommt Klaußner ins Literaturhauscafé im Berliner Westen. Dunkles Hemd, dunkles Jackett, steifer Hut, das Outfit, das man von einem Schauspieler erwartet, der im deutschen Film oft Amtsträger spielt. Er bestellt Tee, reißt ein Zuckerpäckchen auf, schüttet sich den Zucker in den Mund, als wolle er einen Gegensatz zu dem schmecken, worüber er schreibt. Warum hat er für sein literarisches Debüt ausgerechnet das Kriegsende gewählt? Er habe eine Abenteuergeschichte erzählen wollen, sagt er. Wie sich einer durchschlägt, wenn sich rundherum alles auflöst.

Andererseits war es der Umbruch selbst, der ihn interessierte, wie schnell eine Weltordnung kippen kann. "Wir wiegen uns bei allen Krisen in Sicherheit, auf einer Insel der Seligen zu leben, aber internationale Konflikte können auch bei uns wieder zu Krieg führen." Das mache diese Zeit so aktuell. Die Frage, sagt Klaußner, sei doch die, ob "nicht im Irrationalismus und der Gewaltbereitschaft des internationalen Populismus Keime einer neuen Kriegsbereitschaft angelegt sind".

Klaußner, Jahrgang 1949, ist zwar selbst kein Kriegskind, aber der Krieg bestimmte seine Kindheit. Er wuchs in Berlin zwischen den Trümmern auf, wenn er hinausging zum Spielen, sagte seine Mutter: Fass bloß nichts Metallisches an. Bis heute müsse er, wenn er irgendwo Ruinen sehe, an seine Kindheit denken, "das generiert fast schon Heimatgefühle". Und dann sei da noch diese "Berlin-Krankheit". Dass man sich bei jedem Schritt fragt, was hier wohl einmal gewesen ist. "Nirgendwo sonst atmet einem so viel Geschichte entgegen, jeder Stein scheint hier zu erzählen."

Wenn Klaußner spricht, blitzt immer etwas Urberlinisches auf, obwohl er schon seit vielen Jahren in Hamburg lebt, Redewendungen wie "ranjeklotzt" oder "jwd", die Abkürzung für "janz weit draußen". Sein Vater betrieb in Berlin ein Restaurant, das zum Promi-Treff der Nachkriegsgesellschaft wurde. Hier saßen Leute wie Willy Brandt, Theodor Heuss, Curd Jürgens oder Romy Schneider. Klaußner selbst durfte höchstens mal auf ein Eis vorbeikommen, von dem, was im Restaurant vorging, den Geschäften, Besäufnissen und Intrigen, sollte er als Kind nichts erfahren. Auch sonst erzählte sein Vater nicht viel, das Schweigen der Kriegsgeneration hat sich tief in Klaußners Biografie eingefressen.

Nur beim Segeln am Wannsee sei der Vater aufgetaut, sagt Klaußner. Wenn er sich sicher fühlte auf dem graublauen Wasser und die Hände mit etwas Handwerklichem beschäftigt waren. Da habe der Vater ihm eines Tages bei einem Bier erzählt, wie er am Kriegsende im Strandbad Wannsee war. Er wollte zu seinem Schiff, wurde ertappt und sollte in einer Toilette erschossen werden. Der Vater entkam dem Tod, wie und warum, erzählte er nicht. Die Geschichte ließ Burghart Klaußner keine Ruhe mehr. Das Rätselhafte, Existenzielle daran. Aber auch wie typisch sie für eine deutsche Biografie ist.

Klaußner hat sich schon in vielen Künsten ausprobiert, hat auch Chansons gesungen

Den Zweiten Weltkrieg nennt Klaußner gerne "den letzten preußischen Krieg", den Ausdruck hat er von Kleist. Als wolle er dadurch verdeutlichen, dass man Geschichte nie ohne das lesen kann, was ihr voranging. Die Figuren, durch die er als Schauspieler bekannt wurde, stehen für "ein ganzes Spektrum deutscher Möglichkeiten einer Biografie", so sagt er es selbst, im Guten wie im Schlechten. Er war der monströs autoritäre Pfarrer in Michael Hanekes Film "Das weiße Band", der für die brutalisierte Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs stand, er war der Staatsanwalt Fritz Bauer, ohne den die Verbrechen von Auschwitz nicht juristisch aufgearbeitet worden wären, und zuletzt im Film "Das schweigende Klassenzimmer" war er ein verbitterter DDR-Funktionär.

In seinem ersten Roman schlägt er nun die Brücke zu den Vätern. Die Geschichte seines Vaters aus dem Krieg wird zur unerhörten Begebenheit, um die der novellenartige Text kreist. Man merkt, dass das Schreiben für Burkhart Klaußner nur eine Kunst von vielen ist, die er im Lauf seiner Karriere ausprobiert hat, er macht Musik, sang auch schon französische Chansons. Es geht ihm in seinem Romandebüt nicht in erster Linie darum, eine literarische Tiefe zu erreichen, seine Figuren sind grob umrissen, die Sprache bleibt auf eine eher laienhafte Weise lakonisch. Sein Hauptziel ist, jene Leerstelle zu füllen, welche die Kriegsgeneration mit ihrem "fast totalitären Schweigen" hinterlassen hat. Die Geschichte, wie er auf einer Toilette fast erschossen worden wäre, sagt Klaußner, "das war das Einzige überhaupt, was mein Vater mir je von sich erzählt hat".

Burghart Klaußner: Vor dem Anfang. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2018. 176 Seiten, 18 Euro.

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SZ vom 13.10.2018
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