Süddeutsche Zeitung

Neuer "Corto Maltese"-Band:Verführer und Verführter

Lesezeit: 3 min

Starzeichner Bastien Vivès macht in "Schwarzer Ozean" aus dem Comic-Piraten Corto Maltese ein Kind des 21. Jahrhunderts.

Von Fritz Göttler

Corto Maltese macht einen gewaltigen Sprung in der Zeit. In den frühen Bänden, geschaffen von Hugo Pratt (der 1995 starb), hatte der legendäre Graphic-Novel-Held, ein Seefahrer und Pirat, das erste Drittel des 20. Jahrhunderts durchstreift, das lässt er nun im neuen Band "Schwarzer Ozean" weit hinter sich, macht sich frei von den historischen Intrigen und Traumata dort - nur Rasputin, der alte Halunke, taucht auch im neuen Band wieder auf. Geblieben sind die Unruhe, die Bewegung, die Sehnsucht nach Freiheit, die aus Corto Maltese den modernen Helden par excellence machen. "Ich habe etwas gesucht. Oder bin vor etwas davongelaufen? Ich weiß nicht mehr genau."

Ein neuer Archetyp des Abenteurers, geboren aus Gegenkultur und Revolte

"Schwarzer Ozean" ist von Martin Quenehen erzählt und gezeichnet von Bastien Vivès, dem jungen Graphic-Novel-Star Frankreichs, bei ihnen ist Corto Maltese ein Kind des neuen Jahrtausends, zeitlos jung, kaum dem Teenager-Alter entwachsen, also ohne Kapitänsmütze und den knappen Schoßrock, dafür mit Cargojacke und Baseballkappe. Ein Weltenbummler ohne Heimatboden, ein Kapitän ohne Schiff, mit kindlicher Neugier und blitzschnellen Reaktionen, wenn er sich verteidigen und sich aus gefährlichen Situationen herausmanövrieren muss. In einem CIA-Büro in Peru begegnet er Colin Powell, dem damaligen US-Außenminister, es ist das Jahr 2001 und der Tag, an dem eine neue Zeit beginnt, mit zwei Explosionen, zwei Flugzeugen, die in die Twin Towers in New York donnern.

Das ist ein neuer Archetyp des Abenteurers, geboren aus Gegenkultur und Revolte, sagt Benoît Mouchart, Graphic-Novel-Chef beim französischen Verlag Casterman, wo Corto Maltese im Original erscheint, im Nachwort zu dem Band - das erste Abenteuer von Hugo Pratt wurde 1967 veröffentlicht. Corto verbündet sich nie mit einer Ideologie, er hat durchaus seinen eigenen Vorteil im Auge und verkehrt, um diesen zu erreichen, mit Macht und Korruption. Immer wieder aber ist er bereit, sich für die Unterdrückten und Bedrohten spontan zu engagieren. "Er ist weder naiv noch Moralist, eher ein anarchistischer moderner Odysseus, der sich energisch gegen das Label 'Held' zur Wehr setzt. Im Umgang mit Frauen ist Corto eher Verführter als Verführer, auf jeden Fall aber Verehrer."

Corto Maltese ist sexy wie keine andere männliche Comic-Figur, sagt Bastien Vivès. Die Frau an seiner Seite in "Schwarzer Ozean" ist Freya, TV-Filmerin und "Ökokriegerin" - was die beiden verbindet, ist weniger als Liebe und mehr zugleich. Corto tritt nachts in ihre Kabine, sie schläft, er holt ein Buch heraus und liest, über einen verborgenen Schatz in Peru, auf dessen Suche er gehen will. Dann erwacht sie, er ist nun eingeschlafen, und sie nimmt das Buch, das auf seiner Brust liegt - er hat um das Buch kämpfen müssen und in diesem Kampf einen Stich in die Brust gekriegt -, sie liest darin. "Warum jagst du immer hinter Sachen her, die es gar nicht gibt?", fragt sie Corto, als er erwacht. "Und du, warum machst du immer Filme über Sachen, die keiner sehen will?" Das alte Wissen und die jugendliche Energie, beides ergibt eine erotische Szene. Sie weiß: Er wird sie verlassen. Später, bei einer erneuten Wiederbegegnung, schwimmen sie gemeinsam im Meer, spielerisch nackt.

Das Buch, um das es geht, hat für jeden eine eigene Bedeutung. Corto liest den Hinweis auf einen Inkaschatz in Peru darin, der die kolonialistische Ausplünderung überstanden hat, eine Gruppe alter nationalistischer Japaner will mit seiner Hilfe den Kaiser zur Abdankung zwingen - sie haben Japans Niederlage im Weltkrieg nie akzeptiert, ihre Organisation nennt sich "Schwarzer Ozean" und wird von den Geheimdiensten observiert. Corto akzeptiert dann doch recht lässig, dass der Schatz wohl nur eine Schimäre ist - in solcher Lässigkeit liegt die traumhafte Transparenz dieser Figur: diese mythische Klarheit ohne melodramatische Effekte, bei Hugo Pratt in wunderschöne Pastellbilder gefasst. Patrizia Zanotti, Pratts enge Mitarbeiterin, hat die ersten Seiten des neuen Bandes koloriert, danach wechselt er ins Schwarz-Weiß, in ein aggressives Kabuki-Spektakel.

Die Bilder von Bastien Vivès wirken skizzenhaft, unfertig, hingetuscht, sie bilden Geschehen nicht ab, sondern vermitteln die Bewegung, die in ihm steckt. "Die Zeichnung entfaltet einen noch nicht dagewesenen Sinn", schreibt Jean-Luc Nancy, in seinem großartigen Buch "Die Lust an der Zeichnung", in dem er die Kunst der Skizze analysiert - einen Sinn, der "von einer Absicht getragen wird, die mit der Bewegung, der Geste und dem Schwung des Strichs verschmilzt. Ihre Lust ist das Genießen dieses Entfaltens, oder das Entfalten selbst, während es sich erfindet, sich findet und weitergetrieben wird, auf der Spur dessen, was gleichwohl vorher nicht da war."

Der neue "Corto Maltese" ist erneut ein Heldenlied der Unabhängigkeit, und auf den letzten Seiten, im allerletzten Bild erlebt man, geradezu pragmatisch, wie man heute, unter der Diktatur der weltumfassenden sozialen Medien, solche Unabhängigkeit behält.

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