Süddeutsche Zeitung

Serie "Welt im Fieber" - Indien:Ein Winzling kann beißen

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Unser Autor hat in Kalkutta von seinem Vater eine kleine Fabrik zur Herstellung von Rotametern übernommen, die man für Beatmungsgeräte braucht. Plötzlich kann so eine kleine Firma Leben retten.

Gastbeitrag von Venkataraman Ramaswamy

Eine Flut von E-Mails und Telefonanrufen seit Samstag. Beatmungsgeräte werden dringend benötigt, um bei dieser Pandemie Leben zu retten. Und Rotameter sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Einer der Jobs, die ich habe, ist der eines Firmenchefs einer kleinen Fabrik in Kalkutta. Wir stellen Rotameter her.

Die Fabrik wurde 1967 von meinem verstorbenen Vater Raju Venkateswar gegründet. Er war Chemiker und Tüftler, und er versuchte, seinen Beitrag zur einheimischen Produktion im unabhängigen Indien zu leisten, indem er die Herstellung von sogenannten "Schwebekörper-Durchflussmessern" oder Rotametern einleitete, einem fundamentalen Instrument der Prozesssteuerung, mit weitreichenden industriellen, wissenschaftlichen und medizinischen Anwendungen. Der Rotameter, erfunden 1908 in Deutschland und dort 1910 erstmals eingesetzt, ist ein wichtiger Bestandteil des Anästhesiegerätes.

Nachdem Ende der Sechzigerjahre mit der Herstellung des Anästhesiegerätes in Indien begonnen worden war, wurde das Unternehmen mit der Lieferung von Rotametern beauftragt. Mein Vater entwickelte eine geniale Methode zur Herstellung des Instruments und bildete eine Gruppe Jugendlicher aus bescheidenen Verhältnissen zu qualifizierten, sachkundigen Arbeitern aus, die hochpräzise Instrumente herstellten. Die Firma wuchs mit dem Wachstum der indischen Anästhesiegeräteindustrie, und im Jahr 2000 war das winzige Gerät der König seiner Mikro-Nische.

Inzwischen hatte seit dem Jahr 1991 in Indien die wirtschaftliche Liberalisierung begonnen, und am Ende des Jahrzehnts waren die Ergebnisse dieser Liberalisierung in Form von Wachstum des Privatunternehmertums, der Produktion und des Eintritts von ausländischem Kapital sichtbar geworden. Einige Konkurrenten waren der Firma bereits auf den Fersen, indem sie niedrige Preise anboten und Kunden abzogen, denen es nichts ausmachte, in Sachen Qualität Abstriche zu machen.

Ich kam im Jahr 2001 dazu, ein völliger Außenseiter, weder im Ingenieurwesen noch im Unternehmertum kundig. Ich habe die Verantwortung im Angedenken an meinen Vater übernommen. In den folgenden zwei Jahren vertiefte ich mich in die Unternehmensangelegenheiten. Und ich begann mit dem Export von Anästhesie-Rotametern. Der Schlüssel dazu war erstens das Internet und zweitens die MEDICA-Messe in Deutschland. Sie findet in Düsseldorf statt und ist die größte Medizintechnik-Messe der Welt. Ich war zum ersten Mal 2002 dabei und habe zwei Jahre später angefangen, dort auszustellen. Wir trafen auf interessierte Kunden aus der ganzen Welt, was uns dazu veranlasste, in die Verbesserung von Technik und Leistungsfähigkeit zu investieren, um den internationalen Qualitätsanforderungen gerecht werden. 2004 konnte ich auch das Leibniz-Institut für Neue Materialien in Saarbrücken besuchen, um Fachwissen auszutauschen.

Die öffentliche Planung, Verwaltung und Koordination ist wirklich zum Kotzen!

Nach und nach wurde das Unternehmen umgestaltet. Die Fertigungstechnologie, die Art des Produkts, der Kundenstamm, alles wurde verändert. Und nun scheint der bescheidene kleine Rotameter gebraucht zu werden, um Notfallbeatmungsgeräte zur Behandlung von COVID-19-Patienten herzustellen. Ich hatte eine "Globalisierungsinitiative" für das Überleben des Unternehmens eingeleitet. Fast zwei Jahrzehnte später schließt sich der Kreis, indem wir aufgerufen sind, ein kleiner Teil der globalen Mission zu sein, den Albtraum dieser Pandemie zu überwinden.

Also besuchte ich am Montag die Fabrik. Es mussten Rotameter-Proben gefunden, getestet und für die Abholung durch den Kurier verpackt werden. Dann begann eine andere lange Geschichte, an deren Ende (gegen Mitternacht) der Kurierdienst schließlich eingestand, dass sie das Paket wegen des Shutdowns in Indien nicht abholen könnten. Am Dienstagnachmittag war es immer noch nicht abgeholt. Die öffentliche Planung, Verwaltung und Koordination ist wirklich zum Kotzen! Inzwischen sind weitere Mails im Posteingang, Nachfragen nach Rotametern.

Aber ich war vielleicht das erste Mal richtig stolz auf das Team in der Fabrik. Seit einigen Jahren war ich der Überzeugung, dass es düster steht um unsere Überlebenschancen, weil wir so klein sind, dass wir wie ein Staubkorn weggeblasen werden würden. Im Jahr 2010 scheiterten wir daran, als Zulieferer für einen globalen Riesen angeworben zu werden, und später erfuhr ich, dass es unsere Größe war, die nach dem Finanzcrash 2008 unser Los besiegelte. Jetzt, in dieser Zeit der Pandemie (verursacht durch einen mikroskopisch kleinen Keim), wird mir klar, dass auch ein Winzling beißen kann. Die Größe spielt keine Rolle, weder in der Lebenskette noch in der globalen Produktionskette.

V. Ramaswamy, Jahrgang 1960, ist Lehrer, Autor, Sozialplaner und Bürgeraktivist. Er übersetzt bengalische Schriftsteller wie Subimal Misra ins Englische. Ramaswamy lebt in Kalkutta. Aus dem Englischen von Christine Dössel.

Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Textes hieß es irrtümlicherweise, die Pandemie sei durch einen mikroskopisch kleinen Käfer verursacht worden. Wir bitten dies zu entschuldigen.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2020
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