Süddeutsche Zeitung

Netznachrichten:Nie wieder Bildschirme

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Nach Monaten voller Videokonferenzen träumen wieder viele von einem bewussteren, analogeren Leben. Dabei übersehen sie das Wichtigste.

Von Michael Moorstedt

Es war verführerisch, jedes nur erdenkliche Mittel zu ergreifen, um die neue, akute Einsamkeit der Quarantäne zu mildern. Doch nach all den Zoom-Partys, Seminaren in Videospielen und Tele-Yogarunden scheint es so, als sei es bald wieder an der Zeit rauszugehen, das Leben zu genießen - und die Internetendgeräte dabei zurückzulassen.

Das Magazin The Atlantic prophezeit gar ein großes "Offlining", das in Bälde starten wird. Man liefert sogar ein paar Beweise. Etwa dass das Streaming-Portal Netflix gerade das schlechteste Quartalsergebnis seit beinahe einem Jahrzehnt veröffentlicht hat. Oder dass die Videochat-Funktion auf dem Datingportal Tinder von den Nutzern nicht so gut angenommen wird wie gedacht. Oder dass die Downloadzahlen der Hype-App Clubhouse stark schwächeln. Jetzt sei endlich der Zeitpunkt, unsere ungesunde Obsession mit dem Internet nachhaltig zu bekämpfen. Andere Autoren schreiben, beim Gedanken an weitere bildschirmbasierte Interaktionen mit Freunden und Familie würden sie ihr Telefon am liebsten in den Ozean schmeißen.

Nach mehr als einem Jahr, in dem das Leben mehr oder weniger in Gänze durch Bildschirme mediiert wurde, soll nun also die logische Gegenbewegung folgen. Ein Sommer der gedruckten Bücher und des echten Körperkontakts - die Smartphones derweil zwar nicht weggeworfen, aber vielleicht zumindest in den Flugmodus geschaltet.

Vor knapp zehn Jahren war es schon einmal genug mit der Internetnutzung

Auch das Stilportal thecut.com hat "being extremely offline" auf seiner Liste der kommenden Sommertrends. Andere Lebensstile, die es im Auge zu behalten heißt, seien im Übrigen "Ernsthaftigkeit" und "Kommunismus". Nun ja. Für ersteren Punkt zitiert man immerhin ein paar mehr oder weniger bekannte Leute, die ihre Internet-Präsenz in letzter Zeit reduziert haben, aber reicht das schon als Beleg?

Die Offline-Prophezeiungen erinnern eher an eine schon länger zurückliegende Phase, in der die Menschen dachten, dass es jetzt mal langsam genug mit der Internetnutzung sei. Vor knapp zehn Jahren wurden clevere Bücher mit Titeln wie "Ich bin dann mal offline" geschrieben. Wer es sich leisten konnte, begab sich auf luxuriösen "Digital Detox"-Urlaub. In Unternehmen wurden Strategien für einen achtsamen Umgang mit der sogenannten digitalen Welt formuliert, und Erfahrungsberichte eines zehnwöchigen Lebens ohne Handy lasen sich wie eine Survival-Reportage aus dem Dschungel.

All das begab sich wohlgemerkt zu einer Zeit, in der ein Gutteil der heute populären Apps noch gar nicht existierte. Instagram wurde gerade erst veröffentlicht und Facebook hatte knapp zwei Milliarden weniger Nutzer als heutzutage. Im Rückblick, nachdem man mehr als ein Jahr beinahe vollumfänglich vom Netz umgeben war, wirkt die gefühlte Überforderung von damals beinahe niedlich. Nach ein paar Frühsommernächten mit teilnehmender - und zugegebenermaßen weniger repräsentativer - Beobachtung lässt sich ein großer Maschinensturm auf die mobilen Endgeräte aber ohnehin nicht bestätigen.

Anstatt mal wieder einen Extremzustand herbeizuschreiben, wäre wohl auch beides möglich: Die vollkommen ungekannte Macht-Konglomeration der Tech-Unternehmen als eines der drängendsten Probleme unserer Zeit anzuerkennen, das sich während der Pandemie noch verstärkt hat - und gleichzeitig das Internet selbst nicht mehr als eine von außen wirkende, bösartige Kraft wahrzunehmen. Jetzt, wo man so lange in so engem Kontakt damit gelebt hat.

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