Süddeutsche Zeitung

Comic:Wer Zeitungen austrägt, kommt weit herum

Lesezeit: 3 min

Postfeminismus mit einer Prise Eighties-Nostalgie: Die Comic-Serie "Papergirls".

Von Christoph Haas

Die amerikanische Populärkultur hat ihren festen Bestand an Helden. Der Cowboy und der Cop, der Privatdetektiv, der Gangster und der Superheld, der Unternehmer, der Sport- und der Rockstar - alle verweisen sie auf verschiedene Facetten des American Dream, unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um reale Personen oder der Imagination entsprungene Figuren handelt.

In einem Eckchen dieses Pantheons findet sich auch ein halbwüchsiger Junge, der Paperboy. Er entstammt der Ära, in der die Printmedien groß waren. In aller Frühe steigt er auf sein Fahrrad, um den Leuten ihre Zeitung zu bringen. Dass er sich so früh vor die Tür wagt, macht ihn zu einem kleinen Abenteurer, und dass er mit seinem Job ein Taschengeld verdient, zeigt, wie gut er die Grundregeln des Kapitalismus begriffen hat.

Lauter starke Kerle also. Und die Frauen? Nun, es gibt Superheldinnen, auch wenn sie, mit Ausnahme von Wonder Woman, nie so beliebt waren wie ihre Kollegen. Ansonsten bleiben nur Nebenrollen. Höchste Zeit also für ein paar energische Neu- und Umdeutungen, wie sie Brian K. Vaughan, der Szenarist des Science-Fiction-Comics "Paper Girls", gewagt hat.

Die Mädchen sind in einen Generationskonflikt von kosmischen Dimensionen geraten

Dessen Hauptfiguren sind vier zwölfjährige Mädchen aus Stony Stream, einer fiktiven Kleinstadt in der Nähe von Cleveland. Erin, Mac, KJ und Tiffany sind am Morgen des 1. November 1988 unterwegs. In der Nacht zuvor war Halloween, und die Zeitungsausträgerinnen müssen aggressiven männlichen Teenagern ausweichen. Bald aber haben sie gravierendere Probleme: Erst begegnen ihnen unheimliche, vermummte Gestalten, dann reißt der Himmel auf, und Männer in weißen Schutzanzügen, auf Flugsauriern reitend, beginnen, Jagd auf die Menschen zu machen.

Die Mädchen sind, wie sich herausstellt, in einen Generationenkonflikt von kosmischen Dimensionen geraten, in dem Junge und Ältere angesichts der Möglichkeit von Zeitreisen erbittert über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit streiten. Und nicht nur das. Es beginnt für die vier Hauptfiguren selbst eine wilde Reihe von Zeitreisen, die sie zunächst ins Jahr 2016 führt, wo sie konsterniert einer erwachsenen Erin begegnen, in deren Leben eine Menge schiefgelaufen ist. Dann geht es weit zurück; im Jahr 11 706 v. Chr. treffen sie nicht nur auf ein toughes Steinzeit-Girl, sondern auch auf eine zeitreisende Wissenschaftlerin aus dem späteren 21. Jahrhundert, in dem sich schließlich, nach einem Sprung zur Millenniumswende, das Finale der Serie anbahnt.

Dass Artwork und Plot gleichermaßen auf solcher Höhe sind, kommt nicht allzu oft vor.

Rund 900 Seiten umfasst dieser Comic, und nach einer Weile bemerkt man, dass darin fast ausschließlich Frauen auftreten. Schon vor 35 Jahren hat die amerikanische Comic-Zeichnerin Alison Bechdel einen in letzter Zeit gern zitierten Test angeregt, um die Bedeutung weiblicher Figuren in Kinofilmen zu messen. Dazu genügen drei einfache Fragen: Treten mehr als zwei Frauen auf, reden sie miteinander, und sprechen sie über etwas anderes als einen Mann? "Paper Girls" übererfüllt diese bescheidenen Maßstäbe bei Weitem. Mit einer Ausnahme sind alle Männer, die hier auftreten, Randfiguren, und als Sympathieträger taugen von ihnen nur wenige. Mustergültig beachtet sind auch die Ansprüche an Diversity. Was ihren sozialen Stand, ihre Ethnie und ihre sexuelle Orientierung angeht, ist die Mädchengruppe keineswegs homogen.

Ist "Paper Girls" also ein am Reißbrett der politischen Korrektheit entworfenes Lehrstück? Nein, zum Glück keineswegs. Das primäre Ziel Vaughans ist es nicht, sein Publikum zu überzeugen, sondern es bestens zu unterhalten: mit einer zwar nicht bis ins Letzte plausiblen, aber sehr spannenden Handlung sowie mit lebensnah gezeichneten Figuren - eines der Mädchen bekommt ausgerechnet beim Aufenthalt in der Prähistorie zum ersten Mal seine Tage. Aus der Fremdheit der Reisenden innerhalb der Zeit, in der sie jeweils auftauchen, ergibt sich öfter eine stets richtige Dosis an comic relief.

Ein bisschen Eighties-Nostalgie ist "Paper Girls" ebenfalls beigemischt, mit Anspielungen auf TV-Serien, Filme und politische Ereignisse der damaligen Zeit. Sehr witzig ist eine Szene, in der Erin im Traum Ronald Reagan begegnet, während im Himmel über ihnen ein amerikanisches Raumschiff mit einem Laserstrahl sowjetische Raketen abschießt, ganz so wie der Präsident es sich mit seinem utopischen SDI-Programm für die Zukunft erhoffte.

Cliff Chiang, der Zeichner von "Paper Girls", hat bereits vor Jahren, als er für die "Wonder Woman"-Serie tätig war, bewiesen, dass er starke Frauen in Szene setzen kann. Inzwischen ist er künstlerisch weiter gereift; sein Strich ist sicherer, dynamischer, expressiver geworden.

Einen großen Anteil an dem visuellen Eindruck, den "Paper Girls" hervorruft, hat allerdings auch die hervorragende, leicht retromäßige Kolorierung von Matt Wilson, der gezielt auf Blau-, Grün- und Rottöne setzt. Dass Artwork und Plot sich gleichermaßen auf solcher Höhe befinden, kommt nicht allzu oft vor.

Man könnte "Paper Girls" einen feministischen Comic nennen. Eigentlich ist er aber im besten Sinne postfeministisch. In völlig entspannter Weise führt er als selbstverständlich vor, was selbstverständlich sein sollte, es jedoch noch lange nicht ist.

Brian K. Vaughan (Text) / Cliff Chiang (Zeichnungen): Paper Girls. Insgesamt sechs Bände. Aus dem Amerikanischen von Sarah Weissbeck. Cross Cult Verlag, Ludwigsburg 2017 - 2019. Je 128 - 144 Seiten, je 22 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4875884
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.04.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.