Süddeutsche Zeitung

Tanz:Klischees auf Eis

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Zweifelhafte Exotik: Das Berliner Staatsballett setzt zu Weihnachten den "Nussknacker" ab.

Von Dorion Weickmann

Die Intendantin des Berliner Staatsballetts trifft eine Entscheidung und die halbe Tanzrepublik scheint in Ohnmacht zu fallen: Ein Weihnachten ohne "Nussknacker" - unvorstellbar! Christiane Theobald leitet die Kompanie interimistisch. Seit im Herbst 2020 ein Fall von Rassismus in den eigenen Reihen ruchbar wurde, stellt sie alles auf den Prüfstand: das Repertoire, die Umgangsformen, die Hierarchien, die Ausbildung. Jetzt also hat sie den "Nussknacker" auf Eis gelegt mit der Begründung, dass der Klassiker Stereotypen reproduziere, die unter Rassismus-Verdacht fallen.

Wohl wahr. Das Divertissement des zweiten Akts präsentiert eine Menge exotischer Klischees, die sich Marius Petipa, der Choreograf des Originals, 1892 aus den Fingern gesogen hat. Weder Fernost noch den Orient hat der Tanzmeister des Zaren je gesehen. Deshalb sind die einschlägigen "Nussknacker"-Passagen seit Jahren umstritten und haben immer mehr Zweifler auf den Plan gerufen. Als eine der ersten Kompanien reagierte das New York City Ballet: 2017 veränderte es George Balanchines ikonische Choreografie, Kostüme und Make-up der Chinoiserie. Seitdem haben zahlreiche Ensembles ihren "Nussknacker" einer Inspektion unterzogen und seine Konturen zeitgemäß gestrafft. Was bedeutet, dass ethnische Karikaturen entschärft oder historisiert wurden, wie es sich nun mal für eine ernsthafte Diversitätskultur gehört.

Der "Nussknacker" kommt zur Renovierung seines Weltbilds ins Depot

Nichts anderes hat Christiane Theobald im Sinn. Statt die sündteure "Nussknacker"-Produktion von 2013 ein- für allemal zu canceln, setzt sie auf eine akribische Analyse der Inszenierung und schickt sie solange ins Depot. Wer das für überflüssig hält, kultiviert ein Ballett-Image von vorgestern: Hauptsache hübsch, Weltbild gleichgültig! Es ist absolut wünschenswert, dass der Berliner "Nussknacker" nach der Begutachtung wieder ins Rampenlicht zurückkehrt - gerahmt von Publikumsformaten und kulturhistorischer Expertise. Zumal er dort auf ein pfiffiges Konkurrenzmodell treffen könnte, das der künftige Ballett-Intendant Christian Spuck 2017 für Zürich entworfen hat. Also "Nussknacker" mal zwei? Das sind doch tröstliche Aussichten!

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