Süddeutsche Zeitung

Cannes wird ruppig:Hillbillys Rache

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Wenn amerikanische Produzenten Franzosen ins Meer werfen wolen, weil sie sich so langweilen, wird es höchste Zeit für eine Zwischenbilanz vom Filmfestival in Cannes.

TOBIAS KNIEBE

(SZ v. 20.05.2003) - Der Störenfried hatte geladen, und eine gewisse Spannung lag in der Luft. Offiziell ging es darum, auf ein erfolgreiches Jahr der Firma Miramax anzustoßen - inklusive der Gelegenheit, in der zwanglosen Atmosphäre der Carlton-Terrasse über neue Projekte zu plaudern. Die einzige Frage aber war die: Würde Harvey Weinstein Reue zeigen, oder würde er noch einen draufsetzen? Der US-Produzent hatte gleich zu Beginn des Festivals einen scharfen Angriff gegen die Cannes-Administration geritten und sich als Rumsfeld der Croisette positioniert, America vs Old Europe, Runde X.

Weinstein war sich der Aufmerksamkeit bewusst, gab sich aber entspannt. Er trank Diet Coke, verzichtete auf weitere Großangriffe und verstreute Gemeinheiten im Plauderton. Natürlich hätte er Quentin Tarantino drängen können, sagte er, wenigstens zwanzig Minuten seines neuen Films zu zeigen - genau wie Martin Scorsese im Vorjahr. Aber Cannes sei die Anstrengung nicht mehr wert. Auch das berüchtigte Wort von der "French Connection" fiel - der alte Vorwurf, dass hier nur Filme eine Chance haben, die mit starken französischen Verleihinteressen verknüpft sind. "Venedig und Berlin werden Cannes noch in den Arsch treten", prophezeite Weinstein. "Dort ist man fairer zu den Filmemachern."

Auch Weinstein musste allerdings zugeben, dass Gilles Jacob noch einen Trumpf in der Hand hat: Immer dann, wenn der dänische Genius Lars von Trier ein neues Werk mitbringt, kündigt sich ein Energieschub für das Festival an - und damit auch für das ganze europäische Kino. Weinstein gestand, auf Triers "Dogville" extrem gespannt zu sein - eventuell sogar als Käufer. Zunächst jedoch war Hector Babenco dran, dessen "Carandiru" ebenfalls ein gewisser Ruf vorausging: Immerhin geht es um das größte Gefängnis Lateinamerikas, die berüchtigte "Estação Carandiro" in São Paolo, 1992 der Schauplatz eines Polizei-Massakers mit mehr als hundert Toten. Der Arzt Drauzio Varella, der Ende der Achtzigerjahre als Freiwilliger in der Aids-Vorsorge der Vollzugsanstalt arbeitete, schrieb seine Erfahrungen in einem Buch auf, das Brasilien erschütterte und einer der größten Bestseller des Landes wurde. Man merkt also gleich: Hier geht um etwas. Was bei einem Festival, wo die Filme sich gern in Richtung sinnfreier Etüde verflüchtigen, schon mal gut ist.

Babenco wirft den Zuschauer hinein in die Hitze, Enge und Paranoia dieses absurden Knasts, der für 4000 Insassen gebaut ist, aber fast die doppelte Menge beherbergen muss. Man spürt etwas Besonderes in diesen Zellen, Gittern und Gängen: Das Team hat im realen Carandiro-Komplex gedreht - bevor er, als Mahnmal staatlicher Schande, voriges Jahr gesprengt wurde. Schweißglänzende Muskeln in allen Hautfarben, wuchtige Verbrecherfressen, Gebrüll, Gestank, rollende Augen und blitzende Messer - man hat nicht das Gefühl, dieser Hölle lange gewachsen zu sein, und das ist auch beabsichtigt. Denn nun beginnt Babenco seine Arbeit, zu den Gesichtern allmählich Geschichten zu gruppieren, von Freundschaft und Familie, Leidenschaft und Verrat. Der junge Doktor gewinnt Vertrauen, lernt die Schicksale kennen - und obwohl Babenco ihre Gewalt nie verharmlost, beginnt man in kürzester Zeit doch, Mörder und Diebe mit seinen Augen wahrzunehmen: als Menschen, Sympathieträger gar, denen man oft die Daumen drückt. Ein tränenreicher Besuchstag, eine Transvestiten-Hochzeit hinter Gittern: Für einen Moment ist diese Knastgemeinschaft dem Idyll bedenklich nahe - aber nur, um umso brutaler zerstört zu werden. Eine Todessschwadron der Polizei mäht Unbewaffnete nieder, die den Versuch eines Aufstands wagten. Es gibt nicht einmal eine Begründung für diesen staatlichen Massenmord. So wird erkennbar, dass Babenco sich der Mittel des Propagandafilms bedient: Man staunt über die Vitalität seiner Figuren, wundert sich über seine dramaturgischen Mittel - und hofft am Ende nur, dass die politische Sache, für die er sich so gewaltig ins Zeug legt, diesen Namen auch wirklich verdient.

Da ist Lars von Trier schon eine andere Nummer - obwohl man in der ersten halben Stunde von "Dogville" noch denkt, er habe es mit dem Experimentieren diesmal zu weit getrieben. Der Film, als erster Teil einer geplanten "U, S and A"-Trilogie angekündigt, öffnet die Augen, indem er aus großer Höhe auf eine weitläufige Theaterbühne blickt. Dort ist ein Bergdorf erkennbar - allerdings so, als sei das Dorf planiert worden, und jemand habe die Grundrisse der Häuser mit Kreide markiert. In diesen Häusern, die eher Planquadrate sind, stehen Möbel, bewegen sich Menschen, ihre Namen sind mit großen Lettern auf den Boden gepinselt, genauso wie die Namen der Straßen. Dazu beginnt die warme, humorvolle und übertrieben heimelige Erzählstimme von John Hurt die Geschichte der bedeutungslosen aber glücklichen Stadt Dogville zu erzählen, hoch in den Rocky Mountains, wo die Straße zu Ende ist, in der Zeit der Großen Depression. Schreckliche Puritaner wohnen hier, sie gehen ihren kleinlichen Geschäften nach, und weil kein Pfarrer mehr seinen Weg in die Stadt findet, halten sie Meetings zur "moralischen Wiederbewaffnung" ab.

Der Verfremdungseffekt ist erstaunlich, und von Trier macht keinerlei Kompromisse. Beim Licht beschränkt er sich auf Theaterscheinwerfer von oben, was dazu führt, dass die Gesichter der Schauspieler oft im Schatten liegen. Die Kamera schwenkt er selbst - und machmal so wild, dass man an amateurhaftes Theaterfernsehen glaubt. Wenn man dazu noch weiß, dass er vom Lied der "Seeräuber-Jenny" aus Brechts Dreigroschenoper inspiriert ist, muss man eine schwere moralische Lehrstunde fürchten. Das denkt man und wird dann doch so schnell in die Geschichte hineingezogen, dass der unwirtliche Rahmen aus dem Blick verschwindet. Ein Mädchen namens Grace (Nicole Kidman) kommt in die Stadt, offensichtlich ist sie auf der Flucht vor Gangstern. Die Bewohner beschließen, sie zu verstecken - aber sollte nur einer sich gegen sie entscheiden, würde sie aus dem Dorf verstoßen. Und weil im Leben nichts umsonst ist, bietet sie den Bewohnern nun ihre Dienste an, hilft im Garten und bei den Kindern, scheint beinah schon integriert - bis sich die Lage auf eine Weise zuspitzt, welche die unsagbar hässliche Kehrseite dieses Tauschgeschäfts an den Tag bringt.

Man ist komplett gefangen von Nicole Kidmans Präsenz, man bangt um das Schicksal der scheinbar so arglosen Grace - und spürt gleichzeitig, wie sich im Untergrund eine monumentale Wut der Regisseurs zusammenbraut. Wollte ihr mich kritisieren, scheint er zu fragen, weil ich hier über Amerika rede, ein Land, in dem ich noch niemals war? Dann wartet mal ab ... Erkennt ihr euch wieder in diesem Gemeinwesen, seinem Sicherheitsdenken, seinen kleinlichen Kalkulationen - dann haltet euch fest, was jetzt kommt. Einmal setzt der Präsident im Radio zu einer Rede an - sofort schalten die Bewohner seine Stimme ab: Es geht gerade nicht um korrupte Eliten, um George W. Bush und die Gangster der Politik. Die zeigt Trier, in Form des Obergangsters James Caan, als brutalen aber dennoch akzeptablen Gegenentwurf.

Nein, die wahren Schurken sind hier die einfachen Amerikaner, dieses große und geschäftstüchtige Volk, und seine unausrottbar puritanischen Wurzeln. Sie werden am Ende, man glaubt es kaum, zum Ziel eines politisch-philosophischen Amoklaufs. Die erniedrigte Grace erlebt eine Wandlung zur Jihad-Kriegerin, die für das Wohl der Menschheit tötet - und zivile Opfer werden nicht nur in Kauf genommen, sie sind sogar unerlässlich. Man sieht diesen Showdown vorüberziehen - und kann doch nicht behaupten, man habe das Ganze nicht genossen. Schon ertränkt tosender Applaus vereinzelte Buhrufe, vermutlich von verzweifelten Amerikanern. Old Europa vs. America, eine neue Runde ist eröffnet. "Falls das Festival langweilig bleibt, werfe ich einen Franzosen ins Meer", hatte Harvey Weinstein, auf der Terasse des Carlton, den Journalisten angeboten. Danke, nett gemeint. Wird aber jetzt nicht mehr nötig sein.

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