Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Françoise Cactus:Die Einzigartige

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Françoise Cactus von "Stereo Total" ist gestorben. Über eine Künstlerin zwischen Punk und französischem Gitarrenrock

Von Joachim Hentschel

Wenn man das seit Dämmerung der Postmoderne völlig überstrapazierte Wort "Kunstfigur" in eine Übersetzungsmaschine tippt und auf "Französisch" klickt, kommt "personnage artistique" heraus, und das klingt dann gar nicht mehr so schlecht. Es ist genau dieses Prinzip, nach dem die große Musikerin, Schriftstellerin und Alles-Mögliche-Künstlerin Françoise Cactus ihr Werk, ihre Welt bastelte. Sie war zukunftsverliebt und comicfigurenhaft wie die Science-Fiction-Heldin Barbarella. Feministisch, gebildet und strikt wie Simone de Beauvoir. So ausgelassen versaut wie irgendein Mädchen aus einem 70er-Softsex-Film. Und so weiter.

Aus all diesen, für sich genommen nostalgisch wirkenden Charakteren goss sie dann die Person, die so eigentlich nur im Berlin der frühen Nachwendezeit geboren werden konnte: die leicht täntchenhafte Französin, die in bunten Kleidern durch die Wohnzimmerkneipen wandelte, wie eine intellektuelle Touristin, in einer Mischung aus Pikiertheit und Künstlerinnen-Attitüde. Geboren in einem 1000-Einwohner-Örtchen im Burgund, als Françoise van Hove, kam sie Mitte der 80er-Jahre nach Westberlin. Trommelte und sang in der Rockband Lolitas. Gründete 1993 mit ihrem Partner Hartmut Richard Ziegler, der sich Brezel Göring nannte, die Gruppe Stereo Total, eine radikale, bald weit über die Schwellen der Abbruchhaus-Bars bekannte Pop-Konstruktion.

2004 wurde sie Opfer eines brutalen Boulevard-Streits um eine Häkelpuppe

Grundsatz der Band war, dass kein Instrument teurer als 40 Flohmarkt-Mark sein durfte. Aus dem Geist der europäischen Elektronik-Avantgarde heraus dichteten sie Chansons und Schlager, zogen quer durchs parallel stattfindende, streng rückwärtsgewandte Abba- und ZDF-Hitparade-Revival eine pulsierende Linie Richtung Zukunft. "Ich wurde als Tier geboren, aber ich kann mich nicht erinnern, ich bin anders geworden", quengelte Cactus zur bollernden, rauschenden, absolut discofähigen Musik. Den französischen Akzent legte sie in gut 35 deutschen Jahren schon aus Prinzip nicht ab. Man konnte ihn noch Ende Januar über den Berliner Sender Radio Eins hören, wo sie mit Brezel Göring eine monatliche Show moderierte, auch als sie schon schwer krank war.

Stereo Total tourten durch die USA, Japan, Russland. Gleichzeitig pflegte Françoise Cactus weiter ihre Off-Künstlerinnen-Persönlichkeit, auf eine souverän selbstverständliche Art, die nicht mehr in die Zeit zu passen schien. Sie schrieb Belletristik, legte als DJ auf. Wurde 2004 Opfer eines bizarren Boulevard-Streits um eine Häkelpuppe, die sie zu einer Ausstellung über sexuelle Gewalt beigesteuert hatte, und machte aus dem scheinheiligen Disput selbst wieder eine Kunstaktion. "Ich würde eine Kommune gründen, Obdachlosen ein Dach schenken und Bands mit Prostituierten gründen", antwortete sie einmal in einem Interview auf die Frage, was sie mit einer Million Euro anfangen würde, und das war sicher nicht kokett. Am Mittwich ist Françoise Cactus mit 57 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Dass sie einzigartig bleiben wird, dürfte feststehen.

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