Bühne:Eintauchen, bitte!
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Immersion heißt der neue Trend im Theater: Zuschauer sollen Erfahrungen machen wie Alice hinter den Spiegeln. Man setzt ihnen VR-Brillen oder Kopfhörer auf, bietet ihnen Wodka oder Sex an. Und dann los!
Von Mounia Meiborg
Um über moderne Kunst zu reden, wird zurzeit oft Lewis Carrolls "Alice hinter den Spiegeln" zitiert. Darin geht es um ein Erlebnis der besonderen Art: Ein Mädchen taucht in eine Fantasiewelt ein, die von lebenden Schachfiguren, sprechenden Blumen und fliegenden Elefanten bevölkert wird. Alice wird Teil dieser neuen Welt, die für sie zur realen wird.
Besucht man derzeit Ausstellungen, Theaterstücke oder Performances, geht es einem oft wie Alice. Zwar muss man nicht durch einen Spiegel steigen. Aber andere Hilfsmittel sollen dafür sorgen, dass man eine Schwelle übertritt: Man schließt die Augen, setzt VR-Brillen oder Kopfhörer auf, zieht mit Sensoren ausgestattete Overalls an, wird von Kameras gefilmt, installiert Apps oder durchwandert einen Parcours. Es kann einem auch passieren, dass Performer Popcorn oder Sex anbieten.
Der Zuschauer soll eine intensive sinnliche Erfahrung machen, die die ästhetische übersteigt
So unterschiedlich wie die Hilfsmittel sind auch die Kunstformen, die so entstehen. Was sie gemeinsam haben, ist erst mal nur ein Wort: Immersion. Immersion, vom lateinischen immersio, bedeutet ein- oder untertauchen. Es bezeichnet sowohl den aktiven Vorgang des Eintauchens als auch den passiven Zustand des Eingetauchtseins. Die Sprachwissenschaft versteht unter Immersion das Lernen einer Fremdsprache in einer Umgebung, in der ausschließlich in dieser Sprache kommuniziert wird. Für die Kunst wichtiger ist die Verwendung des Begriffs in den Medienwissenschaften. Vor allem im Zusammenhang mit Computerspielen und anderen virtuellen Realitäten wird der Begriff dort gebraucht. Je komplexer und detailreicher eine virtuelle Welt gestaltet ist und je organischer der game controller den Übergang in diese Welt ermöglicht, desto größer das Immersionserlebnis.
Bezogen auf Kunst kann man sich fragen, ob es den Begriff "Immersion" überhaupt braucht. Zielt Kunst nicht per se auf Immersion? Im Theater wird seit dem 18. Jahrhundert der Zuschauerraum abgedunkelt, damit die Besucher ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne richten und das Drumherum im wahrsten Sinne des Wortes ausblenden. Die Frage ist also: Wie unterscheidet sich der Vorgang des Eintauchens bei immersivem Theater von dem der Guckkastenbühne?
Die Theaterwissenschaftlerin Theresa Schütz, die an der Freien Universität Berlin zu immersivem Theater promoviert, nennt zwei Kriterien für immersive Kunst: Das Publikum werde aktiviert. Und die vierte Wand - die imaginäre Trennwand zwischen Bühne und Publikum - werde mobilisiert, wodurch ein anderes Raumerleben möglich werde. Bei solchen Arbeiten könnten die Besucher "eine spezifische, intensive Erfahrung machen, die die ästhetische Erfahrung übersteigt".
Im angelsächsischen Raum spricht man seit der Jahrtausendwende von "immersive theatre"; seit die Performancegruppe Punchdrunk mit ihren gigantischen Produktionen in verlassenen Kasernen, Fabrikgebäuden oder U-Bahn-Stationen für Aufsehen sorgt. Mittlerweile sind sie - vom Guardian als "Banksy der Theaterwelt" geadelt - zu einer Art Franchise-Unternehmen geworden, das seine Stücke parallel auf Welttournee schickt.
Auch im deutschsprachigen Raum gibt es immersive Kunst - etwa die Audio-Walks von Rimini Protokoll oder die interaktiven Installationen von Signa - seit etwa 15 Jahren. Den Begriff haben aber erst die Berliner Festspiele populär gemacht. Seit letztem Herbst veranstalten sie eine Programmreihe zum Thema Immersion. Im Begleitheft wird der Aktionskünstler Allan Kaprow zitiert, der in den Fünfzigerjahren das Happening erfand: "Go in instead of look at." Hineingehen statt ansehen.
Man kann zum Beispiel aufs Tempelhofer Feld gehen, wo das schwedische Duo Lundahl & Seitl zu der Performance "Unknown Cloud on Its Way to Berlin" geladen hat. Etwa fünfzig Leute finden sich an einem Sommerabend zusammen, ausgerüstet mit Smartphones und Kopfhörern. Die App, die man vorher herunterladen musste, macht auf vielen Handys Probleme. Nicht alle können mitmachen.
Die Zuschauer sollen gemeinsam eine elektromagnetische Wolke einfangen. Das erfährt man, wenn man der säuselnden Stimme im Ohr lauscht. Oder wenn man aufs Display schaut, auf dem mal das Weltall, mal ein HTML-Code zu sehen ist. Man folgt also den Anweisungen, läuft umher, schließt die Augen und nähert sich seinen Mitmenschen. Eine Gruppe Menschen, die ihre Handys in die Höhe reckt - das könnte auch ein Werbespot für Apple sein.
Eintauchen kann man in diese Erzählung kaum. Viele Übungen folgen allzu durchschaubar dem Einmaleins der Theaterpädagogik. Das Thema bleibt schwammig. Und nicht zuletzt liegt es an der Dynamik des öffentlichen Raumes, die in der vorproduzierten App ja gar nicht thematisiert werden kann. Ständig beobachtet man sich selbst, vor allem aber die Leute ringsum. In vielerlei Hinsicht ist "Unknown Cloud on Its Way to Berlin" typisch für immersive Kunst: Die Besucher bewegen sich frei im Raum und interagieren, die Arbeit liegt an der Schnittstelle verschiedener Kunstsparten, es wird digitale Technik benutzt und ein naturwissenschaftliches Thema verhandelt.
Auch in der Ausstellung "Limits of Knowing" im Martin-Gropius-Bau ist das so. Es geht um Zeit und Raum, Schwarze Löcher und Relativitätstheorie. Die Texte suggerieren, man werde ungeahnte Sphären erreichen. Dann schaut man auf eine Lavalampe, aus den Boxen kommt ätherisches Geblubber, und es passiert: nichts.
Schön, dass es technisch möglich ist, sich, wie im "Haptic field (v2.0)" von Chris Salter + TeZ, mit semitransparenten Kapuzen optisch täuschen zu lassen und von multisensorischen Overalls leichte Stromschläge verpassen zu lassen. Aber wozu? Scheinbar experimentieren viele Künstler noch mit der Technik. Heraus kommen oft Fingerübungen. Dass auch komplexe, anrührende Erzählungen möglich sind, beweist das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll. In seiner Installation "Nachlass - Pièces sans personnes" stehen acht Zimmer für acht Leben, die zu Ende gehen - und für das, was nach dem Tod von einem Menschen bleibt. Der Zuschauer betritt diese Räume in der Reihenfolge seiner Wahl. Er stöbert in den Akten einer einstigen EU-Abgeordneten. Er sitzt in einer Moschee auf dem Teppich, isst türkische Süßigkeiten. Oder er applaudiert in einem kleinen Theater einer Sekretärin, die von einer Bühnenkarriere träumte.
Die Menschen sprechen durch Audios, Videos und geschickt inszenierte Gegenstände. Für Rimini Protokoll, bei denen die sogenannten "Experten des Alltags" sonst manchmal etwas unbeholfen auf der Bühne stehen, erweist sich das als fruchtbare Erzählform. Die Geschichten sind tieftraurig, aber nie kitschig. Manchmal sind sie sogar überraschend komisch. Echter Humor fängt eben dort an, wo es nichts zu lachen gibt. Mit dem Eintauchen in die Geschichten entsteht hier: Empathie.
Für Thomas Oberender, den Leiter der Berliner Festspiele, sind immersive Kunstwerke auch dann, wenn sie in ihren Mitteln völlig analog sind, Ausdruck des digitalen Zeitalters. "Zu sehen sind oft andersartige Narrationen, die nicht mehr linear funktionieren", sagt er. Immersion sei mehr als eine neue Modevokabel für Dramaturgen und Kuratoren. Sie biete sich an, um die Gegenwart zu begreifen.
Die Beispiele, die einem für Immersionserlebnisse abseits der Kunst einfallen, sind allerdings meist negative: Ikea-Märkte, in denen die Kunden in eine Wohlfühlwelt eintauchen und möglichst viel kaufen sollen. Firmen wie Google mit ihrer Dauerpräsenz im Alltag der Nutzer. Oder Sekten, die ihre Mitglieder mit sinnlichen Ritualen zur Selbstaufgabe animieren. In gewisser Weise arbeiten auch totalitäre Staaten mit Immersion, wenn sie ideologisch und lifestyle-technisch ein Rundum-Programm liefern.
Immersiver Kunst wird oft vorgeworfen, sie sei manipulativ. Tatsächlich geht es oft mehr ums Fühlen als ums Denken; zumindest während man mittendrin steckt. Dem sinnlichen Erleben inklusive körperlicher Reaktionen kann man sich kaum entziehen. Im Extremtheater von Ida Müller und Vegard Vinge im eigens dafür gebauten "Nationaltheater Reinickendorf" ertönt zum Beispiel eine Dreiviertelstunde lang ein achttaktiger Loop mit einem hinterherhumpelnden Beat. Irgendwann ist es kaum noch auszuhalten.
Immersive Kunstwerke bedienen sich einer Strategie der Erlebnisindustrie
Der Medientheoretiker Oliver Grau beschreibt den Vorgang des Eintauchens in seinem Buch "Virtual Art. From Illusion to Immersion" so: "Immersion kann ein intellektuell stimulierender Prozess sein; dennoch ist Immersion in den meisten Fällen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, geistig absorbierend und ein Prozess, eine Veränderung, ein Durchgang von einem Seelenzustand zum nächsten. Sie zeichnet sich durch schrumpfende kritische Distanz aus zu dem, was gezeigt wird und steigende emotionale Beteiligung an dem, was passiert."
Denkt man an Lewis Carroll, könnte die Frage lauten: Kann Alice zugleich vor und hinter dem Spiegel stehen? Kann der Besucher also zugleich in ein Kunstwerk eintauchen und es reflektieren? Schließen Nähe und Distanz sich aus? Wohnt immersiven Kunstwerken, die sich ja einer Strategie der Erlebnisindustrie bedienen, automatisch ein affirmativer Charakter inne? Und wie verändert sich der Dualismus von Produzent und Rezipient, wenn der Besucher zum Teil des Kunstwerks wird?
In den Installationen des dänisch-österreichischen Performance-Duos Signa betritt der Zuschauer minutiös gestaltete Welten, deren Geschichten und Geheimnisse er selbst freilegen muss - indem er mit Performern redet, Wodka trinkt oder ihre nackten Körper begafft. Dass in diesen Welten ziemlich ungesunde Machtstrukturen herrschen, ist kein Zufall. Der Besucher wird in einer Extremsituation in Entscheidungszwang versetzt. Und lernt dabei, wenn es gut läuft, etwas über eigene Abgründe und ethische Grenzen.
Noch radikaler sind die "narrative spaces" (deutsch: erzählende Räume) von Mona El Gammal. Der Besucher betritt alleine ein verlassenes Gebäude: Theater als unsozialer Ort. Bei "Rhizomat" war dieser Ort ein ehemaliges Ost-Berliner Fernmeldeamt, das El Gammal und ihr Team mit Akribie in einen dystopischen Überwachungsstaat verwandelten. Der Besucher wird durch Kameras beobachtet; Text- und Soundeinspielungen sowie Lichtdramaturgie lenken seinen Schritt.
Auch wenn manche Details unstimmig sind: Es wird hier eine äußerst ungemütliche Welt geschaffen; eine Mischung aus Silicon Valley, Scientology und Stasi. Vereinzelung und Überwachung sind nicht nur das Thema, sie bilden auch die formale Grundlage. Es entsteht ein "totales" Kunstwerk im doppelten Sinn: ein Gesamtkunstwerk, das mit Raum, Sprache, Licht, Sound und Gerüchen arbeitet. Und eine Erzählung über totalitäre Strukturen mithilfe derselben. Wenn dieses immersive Kunstwerk ein Spiegel unserer Zeit ist, sollte man sich Sorgen machen um die Welt.