Süddeutsche Zeitung

Oper:Albtraumhaft und psychotisch

Lesezeit: 3 min

Die Regisseurin Andrea Breth hat Benjamin Brittens Rätseloper "The Turn of the Screw" für Brüssel inszeniert: Sogar der Stream fasziniert dank ihrer Personenführung.

Von Egbert Tholl

Auf einem der berühmtesten Gemälde von René Magritte sieht man eine Pfeife, klar und deutlich gemalt, darunter kann man lesen: "Ceci n'est pas une pipe." Das, was man sieht, ist also keine Pfeife, sondern, was ja so auch stimmt, lediglich das Abbild einer Pfeife, klar getrennt von der Wirklichkeit. Den Hinweis darauf, dass ein Ding nicht sein Bild ist und umgekehrt, dass man mithin dem Bild oder dem, was man glaubt zu sehen, nicht trauen kann, findet man nun szenisch ausformuliert im Stream der Brüsseler Oper La Monnaie wieder. Andrea Breth inszenierte dort Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" als surreales Meisterwerk in von Magrittes Schaffen angereicherten und von Raimund Orfeo Voigt (Bühne) und Carla Teti (Kostüme) umgesetzten Bildwelten. Dass Magritte lange Zeit in Brüssel lebte und auch dort starb, macht die Sache noch stimmiger.

Brittens Kammeroper, uraufgeführt 1954 in Venedig, basiert auf einer Geschichte von Henry James und der Idee, innere Zustände sichtbar und hörbar zu machen. Eine Gouvernante reist nach Bly, einem Landsitz, wo sie die Kinder Miles und Flora betreuen soll. Dort lebt noch die alte Haushälterin Mrs. Grose. Und dort hausen auch zwei Geister, Peter Quint, der frühere Diener des Vormunds der beiden Kinder, und Miss Jessel, die vorherige Gouvernante. Beide sind tot, Quint drängte Jessel in den Tod und starb selbst bei einem Unfall. In zwei Akten mit jeweils acht Szenen, verbunden durch instrumentale Variationen, bohrt sich Britten zum Kern eines Geheimnisses vor, das letztlich nie ganz geklärt wird. Es muss eine sehr sonderbare Beziehung gewesen sein zwischen Quint und Miles, vielleicht ein Missbrauch, vielleicht eine bizarre Faszination. Man ahnt es nur, weil die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen.

Diese Aufführung ist ein fabelhafter Horrortrip, der natürlich im Tod endet. Vermutlich. Man weiß es nicht ganz genau

Die Präzision von Andrea Breths Personenführung macht sogar den Stream zu einem Erlebnis. Zu Beginn singt Ed Lyon in einem Prolog die Vorgeschichte, und schon da doppeln sich Figuren, wird das düstere Haus bevölkert von Gestalten, Spiegelbildern der Handelnden, tragen die Herren Anzüge und Hüte, wie Magritte sie oft malte. In einer sorgsamen Mischung aus Totale und Close-ups macht die Bildregie sowohl den Raum als auch die Figuren selbst erfahrbar, während die musikalische Szenerie fortschreitet in einem letztlich zwölftönigen Geflecht. Breth und ihr Bühnenbildner inszenieren diese Musik, gerade in den Zwischenspielen. Dann verändern sich die Räume, tauchen die Figuren aus Schränken, vor allem aber Bildinsignien Magrittes auf - eine rätselhafte Taube, eine Frau ohne Gesicht, schwarze Federn -, die wie das musikalische Material in die eigentlichen Spielszenen einsickern. Das erzeugt einen ungemein dichten Sog, zumal es dem Dirigenten Ben Glassberg mit dem Kammerorchester der Brüsseler Oper trefflich gelingt, nicht nur den Bauplan der Musik hörbar zu machen, sondern auch von Anfang an eine nervöse Spannung zu erzeugen, die bis zum Ende kontinuierlich zunimmt. Die Schraube wird, wie es der Titel formuliert, fester und fester angezogen.

Das ist albtraumhaft, psychotisch - und immer faszinierend konkret, wie ja auch Magrittes Bilder an ihrer Oberfläche stets konkret sind. Aber halt nur an der Oberfläche. So sehr die Kinder in ihrer eigenen Welt zu Hause zu sein scheinen, die gerade durch den irisierenden Knabensopran von Henri de Beauffort (Miles) eine ganz eigene Aura innerhalb dieser Oper erhält, so sehr der wüste Kerl Quint (Julian Hubbard) als beunruhigendes Moment einer ambivalenten Verführung durch die Räume schleicht - alles, was geschieht, spiegelt sich in der namenlosen Figur der Gouvernante wider. Sally Matthews spielt fabelhaft genau die Liebe zu den Kindern, die Fürsorge, aber auch die Furcht vor Quint, den Schauer des Unheimlichen. Sie verfügt über eine ungeheure stimmliche Varianz, die sie sehr exakt einsetzt, von der warmen Adaption eines Kinderlieds bis zur gleißenden Emphase im größten Entsetzen. Diese Aufführung ist ein fabelhafter Horrortrip, der natürlich im Tod endet. Vermutlich. Man weiß es nicht ganz genau.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5283183
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.