Süddeutsche Zeitung

Benedict Wells: "Vom Ende der Einsamkeit":Wer bin ich eigentlich?

Lesezeit: 4 min

Nichts liegt dem Autor Benedict Wells ferner als Aufmerksamkeit heischender Ego-Pomp. Mit seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" stürmt er trotzdem gerade die Bestsellerlisten - zu Recht.

Von Christian Mayer

Was wäre die Literaturgeschichte ohne Waisenkinder, ohne die Verlorenen und Verlassenen? Die Liste der Waisen, die sich in feindlicher Umgebung behaupten müssen und dabei oft aus der Not eine Tugend machen, ist lang, sie reicht von Tom Sawyer und Oliver Twist über Heidi und Jane Eyre bis hin zu Harry Potter.

Sieht man sich ein wenig in der Populärkultur um, findet man ebenfalls lauter Helden, die den frühen Verlust ihrer Eltern verarbeiten müssen und ihre Traumata oft mit exzessivem Tatendrang überspielen. Tarzan, James Bond, Superman und Batman - sie alle haben diesen Fleck in ihrer Biografie, der mal heller und mal dunkler aufscheint, es treibt sie die Frage an: Wer bin ich eigentlich?

Wells liebt die Ordnung, die erzählerische Sorgfalt

Nun hat auch der Münchner Benedict Wells, der gerade die Bestsellerlisten stürmt und Ende Mai mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet wird, einen Selbstfindungsroman geschrieben. "Vom Ende der Einsamkeit" heißt das Buch, das anders als die spektakulären Neuerscheinungen in diesem Frühjahr weder als Großerzählung daherkommt noch als faustdickes Bekenntnis. Nichts liegt ihm ferner als Aufmerksamkeit heischender Ego-Pomp.

Wells liebt die Ordnung, die Knappheit, die erzählerische Sorgfalt. Es beginnt mit einem langsamen Erwachen, einer Bewusstwerdung, die dann in eine fast schon klassische, chronologische Erzählung mündet. Jules, der Ich-Erzähler, öffnet nach einem zweitägigen Koma die Augen. Nach einem Motorradunfall liegt er im Krankenhaus mit einem "leisen Dröhnen" in seinem Kopf. Beinahe wäre die Sache tödlich ausgegangen, doch der sportliche Jules hat überlebt, in der Klinik erinnert er sich an das, was ihm widerfahren ist: "Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich" - das ist schon mal ein ziemlich großer Einstiegssatz.

Bei seinem Debüt staunte man über die Reife des damals erst 23-jährigen Autors

Vor vielen Jahren sind Jules Eltern bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben gekommen, Jules war damals zehn. Eine Familienkatastrophe, die den Erzähler und seine älteren Geschwister Marty und Liz aus der Bahn geworfen hat. Aus dem draufgängerischen Jules wird ein schüchterner, in sich gekehrter Internatsschüler und später ein mäßig erfolgreicher Mitarbeiter einer Musikfirma, der unter seiner "Talentlosigkeit" leidet und den letzten gemeinsamen Momenten mit seinem Vater nachtrauert, von dem er fast schon pflichtgemäß die Liebe zur Fotografie übernommen hat.

Marty, der ältere Bruder, gefällt sich als genialischer Einzelgänger und Nerd, wird dann relativ rasch vernünftig und bringt es mit einer Computerfirma zu Wohlstand, ohne jemals den seltsamen Tick ablegen zu können, Türklinken heimlich nach einem bizarren Zahlensystem herunterzudrücken. Liz, die attraktive ältere Schwester, balanciert mit ihrem erhöhten Männer- und Drogenkonsum immer am Abgrund: Um nicht selbst noch einmal verlassen zu werden, verlässt sie die anderen. "Sie redete, wie ein Verdurstender trinken würde: gierig nach jedem einzelnen Wort", so schildert der Erzähler seine Schwester, die Unerreichbare.

"Vom Ende der Einsamkeit" ist ein Roman über drei Geschwister, die sich immer wieder aufrappeln, einander schicksalhaft zugetan sind und dennoch ganz allein. Jules lebt in seiner eigenen Erinnerungswelt, in der die geliebten Eltern noch leben und vor allem die Mutter eine idealisierte Fantasiefigur ist - zu schön, um wahr zu sein. "Zurückkehren, dachte ich. Wieder der werden, der ich war." In seinen wachen Momenten sieht er die verpassten Chancen. Und erkennt allmählich, wen er all die Jahre eigentlich vermisst hat: seine Jugendfreundin Alva. Sie lebt abgeschieden in den Schweizer Bergen mit einem alternden Schriftsteller, einem einstigen literarischen Wunderkind, der nun mit einer Schreibblockade zu kämpfen hat, was zu den tragikomischen Passagen im Buch gehört.

Für kurze Zeit das Glück festhalten

Im zweiten Teil rekonstruiert Wells aus Erinnerungen und Fragmenten die Liebesgeschichte zwischen Jules und Alva, zwei Menschen, die beide nie über den großen Verlust ihrer Kindheit hinwegkommen, aber dann, nach vielen Hindernissen, selbst eine Familie gründen, um die Einsamkeit zu besiegen. Es ist für beide ein spätes Erwachen, und für den Leser ist genau das so bewegend: Mitzuverfolgen, wie dem Erzähler, der noch gar nicht alt ist, die Jahre entgleiten, wie er dann für eine kurze Zeit das Glück festhält und sich in seinen beiden Kindern wiedererkennt. Das mutige und das verängstigte Kind - das ist beides er.

Für sein erstes, 2008 erschienenes Buch "Becks letzter Sommer" erhielt Benedict Wells viel Lob von Kritikern, der Roman über einen Musiklehrer wurde ein gefeierter, von einigen allerdings auch mit leichtem Argwohn betrachteter Überraschungserfolg. Die Leser staunten über einen 23-jährigen Autor, der so viel von den Sehnsüchten der Menschen versteht. Er wolle kein Pop-Literat sein, sagte er damals und entzog sich der medialen Aufregung, Wells ist ohnehin kein Typ für die Rampe. Kann man in diesem Alter wirklich so gelassen sein, so lebenserfahren?

Eine tiefe Sehnsucht nach Beständigkeit

In seinem neuen Roman verweist der Ich-Erzähler, der am Ende selbst zum Schriftsteller wird, immer wieder auf seine literarischen Helden: Carson McCullers, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Vladimir Nabokov. Auch sie sind seine Familie, vielleicht sogar mehr als seine Geschwister. Wie seine Mutter hört Jules am liebsten die Beatles, Paolo Conte, John Coltrane und seinen über alles geliebten Melancholiker Nick Drake, der 1974 im Alter von 26 starb. Er geht in alte Filme von Billy Wilder und bewundert Rilke für seine todessehnsüchtige Lyrik. Das zeugt von Geschmack, aber auch von einer tiefen Sehnsucht nach Beständigkeit. Indem man das Vergehen der Zeit selbst zum Thema macht, entsteht so etwas wie Patina.

Wells interessiert sich leidenschaftlich für das Innenleben seiner Figuren, die eher zufällig in München oder Berlin leben, und herzlich wenig für die Gesellschaft der Gegenwart: Nicht nur in diesem Punkt sind Parallelen zu Michael Kumpfmüllers neuem Roman "Die Erziehung des Mannes" zu erkennen. Manchmal neigt Wells ein wenig zu sehr zur Gentrifizierung seiner Erzählung, da wäre etwas deutsche Wirklichkeit erfrischender als noch ein Zitat von Jack Kerouac. Aber das ist verzeihlich, wenn einer seine Figuren mit so viel Liebe behandelt. Und eine Geschichte zu erzählen hat, die einfach berührt.

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Quelle:
SZ vom 09.04.2016
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