Süddeutsche Zeitung

Ben Wilson: "Metropolen. Weltgeschichte der Menschheit in den Städten":Die Idee ist gut

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Ben Wilson hat sich den urbanen Alltag angesehen - und eine fulminante Liebeserklärung an den Lebensraum Stadt geschrieben.

Von Laura Weißmüller

Das Chaos erscheint mörderisch, vermutlich ist es das sogar. Eine endlose Schlange verbeulter gelber privater Danfo-Minibusse zerpflügt jeden Tag Lagos, Nigerias frühere Hauptstadt und mit mehr als 14 Millionen Einwohnern eine der größten Metropolen der Welt. Tendenz: weiter stark wachsend. Was das Stau-Problem betrifft, dürfte sich Lagos schon Richtung absolute Spitze bewegen, bereits um vier Uhr morgens verlassen hier Menschen ihr Zuhause, um pünktlich im Büro zu sein. Funktionierende öffentliche Verkehrsmittel? Fehlanzeige. Deswegen sieht der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Lagos in seiner Metropole auch keine "richtige Megastadt", "solange diese gelben Busse auf Lagos' Straßen unterwegs sind".

"Ordnung ist im Grunde antiurban", schreibt dagegen Ben Wilson in seinem famosen Buch über Metropolen und erklärt dann auf den folgenden 500 Seiten, was ihn zu dieser Ansicht führt, die man als Merksatz am liebsten jeder Baubehörde, sämtlichen Angehörigen der Stadtplanungsgilde und sonstigen urbanen Denkerinnen und Denkern über den Schreibtisch hängen möchte. Denn tatsächlich liegt eines der größten Übel heutiger Städte ja in der herrischen Großmannssucht ihrer Planer, wobei das Maskulin hier durchaus bewusst gewählt ist, Frauen waren in dieser Disziplin lange Zeit kaum, man könnte auch behaupten nicht existent.

Jede Metropole ist individuell und doch gibt es so etwas wie einen Wesenskern des Urbanen

Doch Wilson geht es in seiner "Weltgeschichte der Menschheit in den Städten" nicht um architektonische Masterpläne und ihre Schöpfer, es geht ihm darum, welche Art von Leben Metropolen durch die Jahrtausende hindurch ermöglicht haben, es geht ihm also um das, was sich zwischen Stein, Holz, Beton und Stahl abgespielt hat. Und genau deswegen freut man sich so über das Buch und wünscht ihm viele Leser. Denn von den zwei Jahren Pandemie hat sich die Stadt ja noch lange nicht erholt, nahm ihr Corona doch fast alles, was sie bis dato reizvoll gemacht hat.

Die Anziehungskraft von Metropolen verkehrte sich mit der Seuche schließlich in ihr Gegenteil, bedeuteten Dichte, Menschenmassen und Kontakte mit unzähligen Unbekannten doch plötzlich vor allem höchste Gefahr. Da kommt Wilsons "Metropolen" gerade recht, denn der britische Autor und Journalist macht auf kluge, aber auch unterhaltsame Weise klar, warum unsere Spezies nicht auf die urbane Lebensform verzichten kann: "Die Konzentration menschlicher Gehirne auf engem Raum ist die beste Möglichkeit, Ideen, Kunst und sozialen Wandel zu befeuern."

Die Befürchtung, seine Liebeserklärung an die Stadt sei vielleicht etwas zu grobkörnig geraten, kann der Historiker schnell beseitigen. Erstens, weil er sich wirklich chronologisch durch die Jahrtausende, von Uruk, eine der ersten großen Städte der Welt, bis hin zu den Megacitys der Gegenwart ackert und dabei auch die Schattenseite nicht ausblendet. Und zweitens, weil er genau diese Chronologie immer wieder aufbricht und die Parallelen durch die Jahrtausende zieht, vom mittelalterlichen Bagdad ins heutige London, vom antiken Rom zur Megacity Tokio, vom Singapur der Gegenwart zurück ins kosmopolitische Palembang aus dem elften Jahrhundert.

Es ist erstaunlich, wie viele Anknüpfungspunkte es für diese Art der Stadtgeschichtsschreibung, für dieses urbane Ping-Pong zwischen den Jahrhunderten gibt. Etwa weil sichtbar wird, wie Klimaveränderungen seit jeher Städte beeinflusst haben, indem diese dafür sorgten, dass Metropolen sich an einem Ort angesiedelt haben oder aufgegeben werden mussten. Wobei die Klimakatastrophe heute die Auswirkungen auf Städte noch mal potenzieren dürfte. Oder weil Pandemien wie der "Schwarze Tod", also die Pest, stets in Städten am härtesten zuschlugen, was Corona noch einmal drastisch vor Augen geführt hat, danach aber nicht selten die Lebensbedingungen in Metropolen verbessert wurden, weil man etwa das Abwassersystem modernisiert hat. Oder auch, wie Städte von Beginn an Innovationskraft ankurbelten, schon Uruk sorgte für die Erfindung von Rad, Webstuhl und Keilschrift. Und natürlich, weil das urbane Versprechen schlechthin - Wohlstand und besseres Leben - durchgehend die Menschen in Metropolen getrieben hat bis zum heutigen Tag, an dem - zumindest statistisch - täglich 200 000 Menschen in Städte ziehen.

Auch wenn jede Metropole individuell ist, lässt sich also doch so etwas wie ein urbaner Wesenskern feststellen. Dass Wilson diesen aus der Geschichte herausmeißeln konnte, indem er sich das Leben der Menschen dort genauer angesehen hat, wusste schon Shakespeare, der schrieb "Was ist die Stadt wohl, als das Volk?"

Für den Leser macht genau diese Perspektive das Buch aber auch so unterhaltsam, denn Wilson analysiert nicht nur die urbane Kultur, von der niederländischen Genremalerei bis zum Gangsta-Rap aus Compton. Sondern er widmet sich auch sonst vor allem dem Alltag in Städten, guckt sich Schwimmbäder, Cafés und Straßenverkäufer auf ihre Bedeutung hin an, geht auf Märkte, in Kaufhäuser und Rotlichtviertel. "Ein Großteil der Geschichte hat sich das urbane Leben nämlich um das Sinnliche gedreht: Essen und Trinken, Sex und Shopping, Klatsch und Spiel." Interessant ist dabei, wie unterschiedlich der Westen im Vergleich zu anderen Gesellschaften durch die Geschichte hindurch auf die Stadt geblickt hat: "Westeuropäer und Amerikaner hegen eine ererbte Antipathie gegen das Stadtleben, die in vielen anderen Kulturen fehlt. Dort wird das urbane Leben bereitwilliger angenommen. In mesopotamischen Gesellschaften, in Mesoamerika, China und Südostasien galt die Stadt seit jeher als heilig, als Geschenk der Götter an die Menschheit. In der jüdisch-christlichen Weltsicht stehen Städte dagegen im Widerspruch zu Gott, sind allenfalls ein notwendiges Übel."

Die urbane Spezies findet sich eben nicht erst seit Chinas gewaltiger Urbanisierungswelle im Osten. "Im gesamten Mittelalter waren neunzehn der zwanzig größten Städte der Welt entweder muslimisch oder befanden sich im Kaiserreich China."

Was Technologie und Hygiene anbelangte, aber auch globaler Handel waren die Metropolen dort denen in Europa weit überlegen. Half nur nichts, wie Wilsons Kapitel über das kriegerische Lübeck oder über Lissabon verdeutlicht, deren Geschichte zum Beispiel die einer Weltstadt sei, "die ihre Rivalinnen niederringt und sich an ihren Kadavern fett frisst". Wer einmal im Kutschenmuseum Lissabons war, der weiß, wie prächtig diese Völlerei auf Kosten anderer aussehen kann.

"Die skorbutischen europäischen Seeleute mit ihrer mickrigen Ladung aus wertlosem Tand hatten dieser raffinierten, polyethnischen urbanen Welt, die mit den Reichtümern Asiens und Afrikas Handel trieb, nicht viel zu bieten. Was sie stattdessen im Gepäck hatten, war die aggressive, hasserfüllte Voreingenommenheit gegen alles Muslimische, die sie in den zermürbenden Kreuzzügen in Marokko und Tunesien gelernt hatten."

Womit sich schon deutlich abzeichnet, dass der Aufstieg des europäischen Stadttyps "in den Ruinen von Tenochtitlan, Calicut, Mombasa, Malakka und anderen Städten" begann. Was wiederum ja nichts anderes bedeutet als: Die Geschichte der Städte ist immer auch die Geschichte der Weltpolitik. Und da sich die Zukunft der Menschheit wohl oder übel in den Metropolen entscheiden wird, macht es doppelt Sinn, ihre Vergangenheit so gut wie nur möglich zu kennen.

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