Süddeutsche Zeitung

Belletristik:Atlantis ahoi!

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Martin Amanshauser schickt ein Kreuzfahrtschiff in den blanken Irrsinn: "Der Fisch in der Streichholzschachtel" heißt sein etwas anderer Reise-Roman. Hanebüchen? Konstruiert? Völlig gaga? Alles drei - und total genial.

Von Hilmar Klute

Eine Reise mit dem Kreuzfahrtschiff ist längst kein Privileg mehr von Leuten, die den Magnetstreifen oder sonstige tantiemensichernde Segnungen ersonnen haben. Selbst mittelprächtig bis unsolide verdienende Menschen können sich heute ein paar Urlaubstage mit Schiffen wie der Atlantis leisten - so heißt der Cruiser, den Martin Amanshauser in seinem Roman "Der Fisch in der Streichholzschachtel" mit allerhand Durchschnittsmenschen vollpackt. Allen voran mit dem 39 Jahre alten Familienvater Fred, der seine Firma für Alarmanlagen mit eher mäßigem Geschick leitet. Freds Geschäfte gehen schlecht, er hat seine Familie "aus einer wahnsinnigen Eingebung" heraus zu dieser Kreuzfahrt überredet: die beiden Kinder, Tom, der wie ein Scheunendrescher frisst, Malvi, die hochtourig pubertiert, und seine Frau Tamara, mittelprächtig erfolgreiche Architektin, die unbegreiflicherweise gerne noch ein drittes Kind hätte.

Allerdings hat sich Fred ohne ihr Wissen vasektomieren lassen; die Stelle in der Leistengegend flammt hin und wieder auf, besonders als er seine alte Flamme Amélie Brecher an Bord wiedertrifft - eine Begegnung, die den Familienvater daran erinnert, dass sein Leben auch anders, womöglich fulminanter hätte verlaufen können. Es kommt ein Orkan auf, der nicht nur das Hochleistungsschiff an seine Grenzen bringt, sondern auch das poröse Beziehungsgeflecht der Menschen an Bord durchlüftet. Und noch etwas geschieht: dem Erholungskreuzer nähert sich ein Piratenschiff; es sind Menschen auf dieser Fin del mundo, die aus einem anderen Jahrhundert, genauer: dem Jahr 1730 stammen und mit einer eher archaischen Weltanschauung ausgestattet sind. Natürlich kommt es zum Clash mit den Passagieren der Atlantis, zumal auch der legendäre Seeräuber Störtebeker an Bord kommt. Ist das hanebüchen? Konstruiert? Gaga? Die Antwort: Alles drei, aber es lässt den Plot in einen rasanten Strudel flutschen. Der computergesteuerte Irrsinn der Kreuzschiff-Wirklichkeit wird fein konterkariert vom staunenden Welterfahrungs-Ton des Geografen der Fin del mundo, der mit schönem Standesstolz das reichlich glanzlose 21. Jahrhundert entdeckt.

Martin Amanshauser ist seit Jahren als Reisejournalist unterwegs. Er weiß, dass Menschen auf dem engen Raum eines Kreuzfahrtschiffs nach kurzer Zeit ihre Lebenskatastrophen-Geschichten auspacken und damit zu ziemlichen Hanswursten werden können. Sein Roman ist eine herrlich vertrackte Tourismus-Komödie, in der Menschen unterwegs sind, die befürchten, dass ihr Schicksal sich an einer nicht gelesenen E-Mail erfüllen könnte, während im wahren Leben die Kommunikationssysteme zwischen Vater und Tochter, Mutter und Ehemann, Fred und Sohn längst nicht mehr zusammengehen. Dass auch ein Riesenschiff sinken könnte, ist dabei eher ein zu vernachlässigendes Problem.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2015
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