Süddeutsche Zeitung

Bachfest Leipzig:Wunder der Ökumene

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Papst Benedikt grüßt zum Leipziger Bachfest, Kardinal Marx reist an, und der nächste Thomaskantor ist ebenfalls Katholik.

Von Helmut Mauró

Der Schreck war groß, als Michael Maul, Intendant des Bachfests Leipzig, wie so oft dieser Tage Ausschnitte aus aktuellen Konzerten auf Facebook postete und die Meldung aufpoppte, 51 Sekunden der Musik seien identisch mit einer Musik, die dem Unterhaltungsmulti Warner gehöre. Weshalb der Beitrag in den Ländern Kuba, Iran, Nordkorea und Syrien blockiert sei. Wahrscheinlich hat dies mehr mit der US-Handelsblockade gegen diese Staaten zu tun als mit Urheberrechtsproblemen, denn dann müssten ja deutlich mehr Staaten betroffen sein. Maul kommentierte die Sperre zeitgemäß mit "WTFCK????" Aber es trifft ihn natürlich besonders, wie hier die Grundidee des Leipziger Bachfests, der internationale Austausch über die Kontinente hinweg, mit Füßen getreten wird. Dazu kommt, dass in diesem Jahr wegen der unsicheren Corona-Lage einige Ensembles nicht anreisen konnten und entweder gar nicht zu hören waren oder nur mittels Liveübertragung präsent sein konnten. Bis zuletzt hingen die Termine in der Schwebe. Es musste vielfach umgeplant werden, um am Ende eine reduzierte, aber live stattfindende Form des Bachfests zustande zu bringen.

Intendant Michael Maul hatte diesmal das thematische Konzept "Messias" entworfen, wofür er mehr als dreißig Kantaten und Lesungstexte aussuchte, die den Lebensweg Jesu von der Wiege bis zur Bahre nachzeichneten. Dabei hatte er sich die literarische Jesus-Trilogie des emeritierten Papstes Benedikt zur Vorlage und Inspiration genommen, worauf dieser sich mit dem Hinweis bedankte, man müsse nicht traurig darüber sein, dass viele Menschen in Bachs Musik nur noch ein rein kulturelles Phänomen wahrnähmen. "Diese Reduktion mag man als gläubiger Christ bedauern, aber sie trägt auch ein positives Element in sich. Denn es bleibt bestehen, dass etwas als Kultur angenommen wird, das Frucht gläubiger Begegnung mit Jesus ist und diesen Ursprung für immer in sich trägt."

Die Zeit verging rasend bei diesem Festival. Freitag verkündigten die Propheten die Ankunft des Messias, Samstag war schon Weihnachten

Dass der hervorragende Sprecher Ulrich Noethen, der die zwischengeschalteten Lesungen bestritt, die Sache mit der kulturellen Aneignung durch ziemlich rabiate, oft unnötige Änderungen des Bibeltexts demonstrierte, war oft nicht nachvollziehbar. Anschaulicher entwickelte sich der Gedanke vom religiösen Potenzial und seiner Transzendenz in den ersten Verkündigungskantaten mit dem belebenden, plastisch artikulierenden, natürlich pulsierenden Amsterdam Baroque Orchestra and Choir unter Leitung von Ton Koopman, einem der Meister der Alte-Musik-Szene.

Die Zeit verging rasend bei diesem Festival. Freitag verkündigten die Propheten die Ankunft des Messias, Samstag war schon Weihnachten. Allerdings: Es war kein überstürztes Fest, es war ein besonderes Weihnachtsoratorium, eine seit Wochen penibel vorbereitete Ankunft, Wiederkunft des Leipziger Thomanerchors unter Leitung des Thomaskantors Gotthold Schwarz. Er muss auf Wunsch der Kulturbürgermeisterin (Skadi Jennicke, Die Linke) im Sommer seinen Platz räumen, ein junger dynamischer Nachfolger wurde gesucht und gefunden. Die traditionell geprägte Position des Thomaskantors soll nicht mehr auf Lebenszeit vergeben werden. Somit geriet die Aufführung aller sechs Kantaten in der Thomaskirche zum inoffiziellen Abschiedskonzert.

Was die Chorsänger dabei an Präzision und Klangqualität, an Textverständlichkeit und Ausdrucksintensität aufboten, war hinreißend, mitreißend, anrührend. Gotthold Schwarz, der nicht gerade altersgebrechlich wirkte, ganz im Gegenteil: energetisch und spannungsgeladen, verband Stimmgruppen und Instrumentalfarben zu einem großen musikalischen Ganzen, das die Grenzen des Machbaren zu sprengen schien. So hat man das alles lange nicht gehört, die großmäulig im federnden Rhythmus "schnaubenden Feinde", "Tod, Teufel, Sünd und Hölle" und natürlich den "Herrscher des Himmels, Heiland und Erlöser", der der "Feinde Wut und Toben dämpft". Und dennoch rutschte das Ganze nie in Richtung Schmierentheater. Wer weiß, wann man Bachs Weihnachtsoratorium je wieder so hören wird.

Die Frage, ob ein Katholik den Thomanerchor übernehmen kann, wurde zumindest öffentlich gar nicht gestellt

Dass man nicht in jedem Fall davon ausgehen kann, dass die eingeladenen Ensembles den hohen Ansprüchen genügen würden, auch dies erlebte man nachhallend beim Rias-Kammerchor und dem für The English Concert eingesprungenen Ensemble Akademie für Alte Musik unter Leitung von Justin Doyle. Das Orchester zähmte seinen Gestaltungswillen von Anfang an, dabei hätte es, etwa in der Begleitung der Tenorarie "Die schäumenden Wellen von Belials Bächen verdoppeln die Wut", großes klangliches Naturschauspiel bieten können. Der Chor blieb oft verschwommen, textunverständlich, das Orchester breiig und immer etwas zu langsam. Gerne auch mal richtig zerdehnt, ohne Biss und Schwung, die Choräle zäh, am Ende piano-verhaucht, vielleicht englisch-ätherisch, sicherlich aber musikalisch ersterbend. Wollte man Bach zum Steigbügelhalter Debussys aufbereiten? Der Versuch, das gelingt nur wenigen Chören, die Solistenpartien wie zu Bachs Zeit aus dem Chor heraus zu besetzen, scheiterte kläglich. Die Sängerinnen und Sänger waren der neuen Rolle nicht gewachsen, der Bass manieriert, die Sopranistin - wie dies öfter in diesen Tagen zu erleben war - aufgekratzt wie auf einer Opernbühne, die Altistin oft unhörbar. Dazu kamen die intonatorischen Attacken einer leicht verstörten Zugtrompete. Ein schönes Desaster, wie es bei einem Festival auch mal passieren kann.

Durchaus überraschend war der Auftritt von Kardinal Marx, dessen Rücktrittsgesuch wegen des sexuellen Missbrauchs in der Kirche gerade vom Papst abgelehnt wurde. Marx kam zu einem Podiumsgespräch mit Intendant Maul. Er wollte den lange zugesagten Termin einhalten, auch in der momentanen, für ihn schwierigen Situation, die er noch gar nicht recht bewältigt habe. Allerdings tröste er sich auch jetzt mit der Musik von Bach, gerade mit den Kantaten, die für ihn keinerlei Anzeichen für eine konfessionelle Einseitigkeit enthält. Vor allem sei sie nicht moralisierend, sondern, wie Maul ergänzte, eine gütige Musik. Laut Marx schrieb Bach keine rein protestantische Musik, er könnte jedes Wort der Kantaten unterschreiben. Aber nicht nur in existenziellen Krisen helfe Bach, seine Musik eröffne schlichtweg einen neuen Verständnishorizont. In einer Zeit, in der sich eine neue Epoche des Christentums anbahne - Marx denkt dabei an alte mystische Traditionen, die er auch in den Bach-Kantaten findet -, gehe es nicht mehr darum, mittels Musik nur eine Lehre zu vermitteln. Es sei klar, dass auch in Deutschland die Christen inzwischen eine Minderheit seien, aber es käme darauf an, dass sie eine kreative Minderheit sind.

Michael Maul erzählt gerne die Geschichte von dem abtrünnigen singenden Mönch Andreas Aiblinger, der aus der Nähe von Passau stammte, auf seiner angekündigten Pilgerreise nach Rom irgendwann falsch abgebogen sein muss und schließlich in Weimar landete, wo er zum Protestantismus konvertierte und der Startenor in Bachs frühen Kantaten wurde. In Leipzig scheint nun der umgekehrte Prozess in Gang zu kommen. Nicht wegen der ideellen Teilhabe des emeritierten Papstes und der Anwesenheit von Kardinal Marx, sondern wegen des neuen Thomaskantors, dem Katholiken Andreas Reize. Der ist insbesondere unter den Choristen umstritten, aber das betrifft nur seine musikalischen Fähigkeiten. Die Frage, ob ein Katholik den Thomanerchor, den traditionsreichsten protestantischen Kirchenchor, übernehmen kann, wurde zumindest öffentlich gar nicht gestellt. Hat Kardinal Marx also recht, wenn er eine neue Epoche des Glaubens kommen sieht? Vollzieht sich nun in Leipzig klammheimlich das Wunder der Ökumene, das Papst Benedikt XVI. zu seiner Amtszeit so gerne bewirkt hätte?

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