Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Eine Puppe ist auch nur ein Mensch

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Margate an der britischen Ostküste bereitet sich auf den Turner-Prize vor. Oscar Murillos beseelte Pappfiguren sind schon bestens im Ort integriert. Als Favorit gilt jedoch ein Videokünstler.

Von Catrin Lorch

Der britische Turner-Prize gilt als eine der am meisten beachteten Auszeichnungen in der Kunstwelt. Schon die jährliche Auswahl der vier Künstler, die zu einer Ausstellung in die Tate Gallery eingeladen sind, wird nicht nur in London, sondern auch in New York, Berlin und Paris diskutiert. Zudem ist der Turner-Prize immer mehr als die Würdigung eines Oeuvres in seiner Gesamtheit - die Jury entscheidet schlussendlich am Morgen der Preisverleihung in den Sälen der Schau. Das hat dem Preis in der Vergangenheit einige sehr sehenswerte Ausstellungen eingebracht: Von der verstreuten Präsentation seiner Fotografien auf den hohen Wänden der Turner-Gallery, für die Wolfgang Tillmans im Jahr 2000 ausgezeichnet wurde, bis zu der Auswahl von vier Nominierten im vergangenen Jahr, die allesamt mit dem Medium Video arbeiteten und ihre Projektions-Säle um eine Lounge gruppierten.

Der Preis ging dann wider Erwarten an die Schottin Charlotte Prodger - und nicht Forensic Architecture gewann, eine Gruppe von Künstlern und Architekten um Eyal Weizman, die in Deutschland vor allem seit der Documenta 14 bekannt ist, als sie die NSU-Morde akribisch mit den Mitteln der Animationstechnik, der Architektur und des Dokumentarfilms recherchierten. Schon deswegen scheint in diesem Jahr für die internationale Szene festzustehen, dass der in Jordanien geborene Lawrence Abu Hamdan gewinnen wird. Er zeigt drei Werke, die im Auftrag von Amnesty International und in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture entstanden, und hat Überlebende syrischer Haft und Folter nach ihren akustischen Erinnerungen befragt. Seine Projektionen waren in diesem Jahr schon auf der Biennale in Venedig unübersehbar und sind in Margate eigentlich konkurrenzlos, vor allem im Vergleich mit den Beiträgen der beiden Künstlerinnen Helen Cammock, die eine stille Video-Recherche über Frauen im nordirischen Bürgerkrieg beisteuerte, und Tai Shani, die ein pink-triefendes, feministisches Utopia im Modellformat aufgebaut hat.

Die handgebastelten "Effigies" kamen mit dem Zug und wurden mit Rollstühlen abgeholt

Dem vierten der geladenen Künstler, dem 1986 in Kolumbien geborenen Oscar Murillo, könnte allerdings ein Überraschungscoup gelingen. Denn die Ausstellung findet in diesem Jahr nicht in der Kunstmetropole London statt, sondern in Margate an der englischen Küste, wo über der Uferpromenade der Tate-Ableger "Turner Contemporary" thront, ein von David Chipperfield entworfener kühl glänzender Museumsbau. Und auch wenn das Gebäude innen aus perfekt ineinander gestaffelten White Cubes besteht - das Publikum, das mit der Bahn angereist ist, spürt noch den Sand unter den Schuhen, weil man den Weg ins Museum über den Strand abkürzen kann, auf dem Teerklümpchen auf mattbraunen Stabmuscheln aushärten. Dass man in Margate betont, die Eröffnung von "Turner Contemporary" habe die Renaissance des heruntergekommenen Badeortes eingeleitet, überzeugt nicht wirklich - weil das triste Margate auch an einem sonnigen Herbsttag so wiederauferstanden wirkt, wie die ratternde Mechanik des angrenzenden Retro-Vergnügungsparks.

In dieser Stimmung erscheint die so hoch gehandelte investigative Video-Arbeit von Lawrence Abu Hamdan sehr global und sehr technologisch - und nicht wenige Zuschauer verschwinden schnell in den Nachbarsaal, wo Oscar Murillo, der 1986 in Kolumbien geborene Bildhauer, mit düsteren Lappen und Gemälden die Panoramafenster lose verhängt hat, vor denen auf Kirchenstühlen seine "Effigies" sitzen. Die "Effigies" sind lebensgroße Männer und Frauen aus Pappmache, sie repräsentieren die heute als "menschliche Ressource" gehandelte Größe, die man früher und andernorts vielleicht "Arbeiterklasse" nannte oder Proletariat.

Die Puppen - Männer und Frauen in zerschlissenen, bunten Kleidern - sitzen schlaff da, sie wirken ausgelaugt und abgekämpft. Resigniert stieren in Richtung Meer und es brauchte das Plakat im Eingang gar nicht, das darauf hinweist, dass nicht wenige Briten einst aus Not zu Migranten wurden, dass Arbeitsmigration auf den britische Inseln keine Einbahnstraße ist.

Das wirkt in Margate überraschend zutreffend. Und so präsent, als hätte sich Murillo - schon lange bevor die Kuratoren aus London ihre Namensliste abgaben - in Margate einquartiert, ja, als sei er ein langjähriger Stammgast in den zerbröselnden Ziegelbauten an der hohen Promenade und habe schon einige verregnete Nachmittage in der örtlichen Bücherei verbracht.

Obwohl die "Effigies" so handgebastelt aussehen wie die Puppen, die man in Kolumbien an Neujahr traditionellerweise abfackelt, behandelt der Bildhauer Oscar Murillo sie anders als Skulpturen, respektvoller, menschlicher. Die "Effigies" dürfen nicht verpackt oder verschifft werden wie Kunstwerke. Sie reisten mit dem Zug aus dem Londoner Atelier an, die Kuratoren buchten zeitig Platzkarten und holten die kleine Truppe am Bahnhof mit Rollstühlen ab, die sie über die Promenade ins Museum schoben.

So ein Transport befremdet nicht nur Kustoden. Er war auch in Margate unübersehbar - und beseelte die Pappmännchen nachhaltig. Es heißt, man habe sie nach der Prozession in Margate nachgerade adoptiert, auch als Platzhalter für die "menschlichen Ressourcen", die Gesichtslosen, die Millionen, die durch die - von Massenarbeitslosigkeit und Migration gezeichnete - Gegenwart geistern. Sollte Oscar Murillo am kommenden Dienstag, dem Tag der Preisverleihung, triumphieren, dann hat Margate auf der Namensliste der Turner-Preisträger Spuren hinterlassen.

Turner Prize 19. Museum Turner Contemporary, Margate. Bis 12. Januar. Der Katalog kostet 5,95 Pfund.

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SZ vom 28.11.2019
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