Süddeutsche Zeitung

Ausbildung:Auf nach China!

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Die deutschen Musikhochschulen bilden viel zu viele Sänger und Sängerinnen aus. Eine Lösung für dieses Problem könnte in einer umgekehrten Arbeitsmigration liegen: weg von den Ausbildungs- hin zu den Bedarfsländern.

Von Michael Stallknecht

"Was sagt ein Schauspieler ohne Job zu einem Schauspieler mit Job?", geht ein in Theaterkreisen gern erzählter Witz. Die Antwort: "Einmal BigMac-Menü groß, bitte." Vielleicht sollten sich die Schnellbratereien überlegen, ob sie mal ein Menü anbieten, das mit einer Gesangseinlage serviert wird. Mögliche Kandidaten für solche Stellen gibt es jedenfalls genug, wenn man einer aktuellen Studie des Berliner Instituts für Kultur und Medienwirtschaft glaubt ("Opernsänger mit Zukunft!: Karriereaussichten für Nachwuchssänger im deutschen Kulturbetrieb", Gütersloh 2019)

. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung wurden Gespräche mit Akteuren aus sämtlichen Bereichen des Musiktheatermarkts geführt, um die Arbeitsmarktchancen von den an deutschen Musikhochschulen ausgebildeten Sängern zu eruieren. Das niederschmetternde Fazit lautet: "Die Hochschulen erzeugen dauerhaft ein strukturelles Überangebot an ausgebildeten Sängerinnen und Sängern."

Dabei ist Deutschland mit seiner einmaligen Dichte von achtzig staatlich und städtisch geförderten Opernensembles das Herzland der Oper, ein Drittel aller weltweiten Vorstellungen findet hier statt. Entsprechend verfügt das Land mit 24 Musikhochschulen auch über außergewöhnlich viele Ausbildungsstudiengänge. Doch die Entsprechung geht schon deshalb nicht auf, weil unter den Bedingungen der Globalisierung eine hohe Arbeitsmigration herrscht. Die Opernhäuser wählen ihre Sänger inzwischen weltweit unter einem Nachwuchs aus, der nach Aussage vieler Macher oft nicht nur besser ausgebildet, sondern karrieretechnisch auch zielorientierter ist als die hierzulande ausgebildeten - deutschen wie ausländischen - Sänger.

Parallel zu diesem Prozess sind die festen Ensembles an den Theatern geschrumpft, was für die Macher der Studie seinen Grund interessanterweise nicht vorrangig in den immer wieder beklagten Budgetkürzungen hat. Eher sehen sie in der Ensemblepolitik ein "Regime des Neuen" am Werk. Viele Theater nehmen auch deshalb nicht mehr so viele Sänger fest ins Ensemble, um sich mehr Spielraum für neue Gesichter in kürzeren Gastverträgen zu lassen. Zudem werden Sänger auf festen Stellen schneller als früher ausgetauscht, weil man ihnen ansonsten zum Beispiel irgendwann eine höhere Gage zahlen müsste.

Dabei ist die Schere zwischen Ausbildung und Beruf in den letzten Jahren auseinander gegangen: Während die Zahl festangestellter Solisten zwischen 2001 und 2016 um fast ein Fünftel geschrumpft ist, wuchs die Zahl der Gesangsstudenten im gleichen Zeitraum um 63 Prozent. Die Hochschulen bilden nicht nur zu viele aus, sondern tendenziell auch die, deren Chancen von vornherein geringer sind: "Zu viele (vor allem Frauen) studieren Operngesang in den falschen, das heißt wenig nachgefragten, 'hohen' und 'leichten' Stimmlagen ohne Aussicht auf eine Solistenkarriere." Frauen sind besonders deshalb strukturell im Nachteil, weil es im klassischen Opernrepertoire deutlich weniger Frauen- als Männerrollen gibt und für die zur Verfügung stehenden Frauenrollen tendenziell eher schwerere Stimmen gesucht werden. Diese aber können sich unter dem "Regime des Neuen" kaum noch entwickeln, weil ihnen die oft nur zweijährigen Theaterverträge wenig Zeit lassen.

Dass es diese Schieflage gibt, ist bereits seit der Jahrtausendwende immer deutlicher ins Bewusstsein der Hochschulen gerückt. Viele bemühen sich inzwischen um eine engere Verknüpfung von Studium und Praxis, beispielsweise mittels zusätzlicher berufsqualifizierender Angebote im musikpädagogischen Bereich, also für eine Ausbildung zum Gesangslehrer. Defizite sieht die Studie noch immer bei dem erforderlichen, aber im Verhältnis zwischen Gesangsdozent und -student schwierigen Mut, jemandem offen und ehrlich zu sagen, dass sein Lebensziel vielleicht eher in einem rechtzeitig angestrebten Platz im Opernchor liegen könne statt in der aussichtslosen Hoffnung auf den großen Durchbruch. Oder notfalls auch in einem Wechsel in ein sichereres Studienfach.

An einem will die Studie dabei nicht grundsätzlich rütteln: an der Ausbildungsfreiheit, die jedem jungen Menschen zu studieren erlaubt, was er möchte.

Staatliche Eingriffe in die Zahl der Studienplätze werden dezidiert abgelehnt. Die Frage wäre hier, wie realistisch das Bild von Freiheit gerade bei der Gesangsausbildung ist. Denn die Zahl der Studienplätze ist schon jetzt durch die von den Kultusministerien an die Hochschulen vergebenen Finanzmittel begrenzt.

Daneben fordern die gängigen Aufnahmeprüfungen den Bewerbern sowieso eine Erstqualifikation ab, die, vergleichbar dem Numerus clausus in anderen Studiengängen, den Zugang von vornherein begrenzt. Die an die Hochschulen ausgezahlten Mittel aber richten sich in der Regel nicht nach der Qualität, sondern nach der Quantität der Ausbildung, wie auch die Studie beklagt. Die Hochschulen bekommen das Geld für die Zahl der Absolventen, die sie hervorbringen, nicht dafür, wie viele davon tatsächlich langfristig den Platz auf die Opern- und Konzertbühne finden.

Sie könnten deshalb durchaus erwägen, ob sie nicht auch über striktere Zulassungsbedingungen in verschiedenen Stadien des Studiums noch weiter an der Stellschraube der Absolventenzahlen drehen möchten. Denn während Studierende beispielsweise der Philosophie von Anfang an einkalkulieren, dass sie nicht notwendig als Philosophen arbeiten werden, handelt es sich beim Gesangsstudium um eines, das in seiner bisherigen Form fast ausschließlich für den berufspraktischen Weg auf die Bühne, in einen Chor oder allenfalls die Tätigkeit als Gesangslehrer qualifiziert. Die Alternativen zu einer Begrenzung sind deshalb noch zynischer: Sie laufen für den Großteil der Studienabgänger auf ein lebenslanges Alternieren zwischen Kurz-, Kürzestengagements und unqualifizierten Jobs hinaus. Oder - auf lange Sicht - vielleicht auf eine umgekehrte Arbeitsmigration, wie die Studie nur halbironisch spekuliert: Während hierzulande die Ensembles immer kleiner werden, sprießen in China momentan neue Opernhäuser schließlich wie Pilze aus dem Boden.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2019
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