Süddeutsche Zeitung

Aufzeichnungen einer Wochenend-Pendlerin:Tausend Tage unterwegs

Lesezeit: 3 min

Montage sind Mitchum-Tage. Oder: München vs Berlin - ein Leben zwischen zwei Welten.

Sonja Zekri

1. Woche

Der Beginn meines Pendler-Lebens ist eine Pleite. Die Flüge sind ausgebucht, der Spätzug weg, bleibt nur der Nachtzug aus München. Ich erreiche Berlin im Morgengrauen. Mein Freund öffnet verschlafen die Tür, wir fallen uns in die Arme, aufgewühlt, Bilder von Kriegsheimkehrern im Kopf.

3. Woche

Viele Wege führen von München nach Berlin, aber mit dem Zug keiner unter sechs Stunden. Zwei Versuche, der Situation etwas Positives abzugewinnen: Fahre ich über den Osten, passiere ich einen Ort mit dem schönen Namen Jena-Paradies. Steige ich in Hannover um, gibt es am Bahnhof gute Pommes. Mehr fällt mir im Moment nicht ein.

10. Woche

Das Münchner Zimmer liegt irgendwo zwischen Stadtrand und Voralpen. Es ist dezent möbliert, ruhig und grün. Der ganze Ort ist ruhig und grün. Sonst ist er nichts, jedenfalls kein Vergleich zu einer Altbauwohnung mit Garten in Charlottenburg. Ich tröste mich damit, dass ich sowieso bald wieder nach Berlin ziehe. Oder dass wir uns gemeinsam was Hübsches in München suchen.

15. Woche:

Das erste gemeinsame Wochenende in München sollte eine Werbeveranstaltung werden, Marketing für München. Auf den Straßen sieht man Frauen in goldenen Ballerinas und Männer mit Beethoven-Frisur. In den Bergen herrscht dichter Nebel, das Bier kostet so viel wie ein Paar Schuhe in Kreuzberg. Spielend setzt mein Freund mir die völlige Alternativlosigkeit Berlins auseinander.

18. Woche

Am Bahnhof erkenne ich inzwischen bekannte Gestalten. Sonntagabends, wenn die Republik "Tatort" guckt, klammern sie sich im Zugwind an ihre Rollkoffer. Ich betrachte sie voller Mitleid und meine eigentlich mich selbst. Der Blonde mit dem Topfschnitt sieht wieder so erschöpft aus, er sollte sich am Wochenende nicht so viel vornehmen...Und da, die Kollegin! Wir vergleichen Pendler-Karrieren wie Krankenbulletins. Gott, drei Jahre? Und keine Hoffnung?

22. Woche

Die Kollegen sind meine München-Schmähungen leid. Und sie haben Recht. Ich gebe München keine Chance. Fünf Tage warte ich nur darauf, es zu verlassen. So was verzeiht keine Stadt. Ich sollte eine neue Wohnung suchen.

29. Woche

Ich fasse Mut und schlage meinem Chef vor, von Berlin aus zu arbeiten, schildere meine Lage in dramatischen Bildern. Er versteht mich. Er ist selber mal gependelt. Er kann nichts für mich tun.

35. Woche

Die Flugpreise sinken. Freitagabends und Montagmorgens ist es zwar nur mittelbillig, aber ich brauche nur noch vier Stunden. Es gibt einen Unterschied zwischen Reisen und Pendeln: Reisen ist eine einmalige Bewegung von A nach B, Pendeln dagegen eine Bewegung zwischen A und B, die potenziell endlos ist, sozusagen chronisch, unheilbar.

49. Woche

Robert Mitchum hat mal gesagt: "Malt mir Augen auf die Lider. Und ich werde schlafwandeln." Montage sind Mitchum-Tage. Fünf Uhr aufstehen, zum Flughafen wanken, beim Start einnicken, in der S-Bahn schlafen. Oft komme ich erst Stationen zu spät wieder zu mir, dann dauert alles noch länger. Die Flieger sind voller neuer Passagiere, neben den Mittvierzigern in Kapuzenpullis aus der Musikszene sieht man nervöse Rentner und Muttis auf dem Weg zum Kindergeburtstag. Fliegen, steht auf ihren Gesichtern, was für ein seltenes Abenteuer!

58. Woche

Ein Kneipenabend in Berlin. Der Freund eines Freundes sagt: "Du lebst in München und in Berlin? Phantastisch! Zwei so großartige Städte!" Drei Biere lang setze ich ihm auseinander, dass er der größten Mobilitätslegende seit dem Ponyexpress aufgesessen ist; dass mir Berlin fremd wird, ohne dass mir München näher kommt; dass jedes Konzert, jedes Fest stattfindet, wenn ich gerade in der anderen Stadt bin; dass ich überhaupt nur arbeite, damit ich zwei Wohnungen bezahlen kann, also Geld verdiene, um mir das Geldverdienen leisten zu können; kurz, dass ich jeden Baumwollsklaven um seine Sesshaftigkeit beneide. Als ich fertig bin, ist es still um uns geworden.

79. Woche

Mein Freundeskreis schrumpft. P. ist fortgezogen und fällt damit aus der Achse Berlin-München heraus, H. telefoniert ungern. In München besucht mich sowieso keiner. Ich würde mich auch nicht besuchen. Meine Einladungen klingen wie Unwetterwarnungen.

87. Woche

Täglich Neues von der Vielfliegeraffäre. Politiker haben sich mit Bonusmeilen Mittelklassewagen und Ayurveda-Kuren erflogen. Ich bringe es als Billigfliegerin nicht mal auf eine Handtasche.

95. Woche

Persönliche Dinge, die in zwei Jahren in München hinzugekommen sind: zwei Rotwein-Gläser, ein Messer, ein Stapel Postkarten. Ich habe doch keine neue Wohnung gesucht, um den moralischen Druck aufrechtzuerhalten. In jüngster Zeit erwische ich mich öfter dabei, dass ich Ausreden suche, um länger zu arbeiten. Der dritte Winter in München.

117. Woche

Wieder ein Streit mit meinem Freund über die München-Berlin-Frage. Er endet erst, als ich zum Flughafen muss.

123. Woche

Es geht nicht mehr. Keinen Tag länger.

124. Woche

Es ging doch.

145. Woche:

Mein Leben zerfällt - oder verdoppelt sich, je nachdem: Mein Hausarzt ist in Berlin, mein Zahnarzt in München, ein Friseur sitzt in Schöneberg, einer in Schwabing. Irgendwie müssten sich die beiden Hälften zusammenbringen lassen, vielleicht wenn ich schneller hin- und herfahre. Aber dann wird das Mary-Poppins-Syndrom wieder stärker, diese flauschige Schwerelosigkeit.

156. Woche

Heute die Überraschung: Ein plötzlicher Anfall von Gelassenheit stellt sich ein, von Ruhe, zum ersten Mal seit Monaten. Völliger Quatsch, dieses Entwurzelungs-Gewinsel, denke ich: Es gibt eine Heimat - und sie liegt hier! Liebevoll betrachte ich die bunten Uniformen und die vertrauten Gesten am Gate, murmele leise die Ansagen der Airlines mit. Frieden. Dann wird mein Flug aufgerufen.

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Quelle:
SZ am Wochenende vom 6.
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