Süddeutsche Zeitung

Architektur:Rohes Fest

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Es kommt immer noch drauf an, was man draus macht, oder: Wo sind unsere Beton-Monster hin? Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt will den Brutalismus retten.

Von Laura Weissmüller

Die Baggerschaufel frisst sich in die Hauswand und reißt fenstergroße Löcher heraus. Wenn ein Haus fällt, wird es brutal, und gerade fallen sie schnell. In Zeiten der Gentrifizierung hat die Abrissbirne viel zu tun. Etwa gerade beim IBM-Hochhaus der ABB Architekten, das zwischen 1961 und 1963 gebaut wurde und auf halber Strecke zwischen dem Frankfurter Hauptbahnhof und dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) bislang stand.

Das passt. Denn das DAM hat einen Notruf abgesetzt. "SOS Brutalismus" lautet der Titel der bahnbrechenden Ausstellung, die eine Architekturepoche rehabilitieren will, die auf der ganzen Welt gerade zum Abbruch freigegeben wird. Es handelt sich um die Gebäude, die zwischen den Sechziger- und den Achtzigerjahren entstanden sind, meist aus schalungsrauem Sichtbeton, gerne überdimensional groß. "Betonmonster" nennt sie der Kurator Oliver Elser in seiner Ausstellung liebevoll und zeigt dann fundiert, warum die Bauten des Brutalismus tatsächlich mehr verdient haben als die Abrissbirne.

Etwa die monumentale Boston City Hall - für Elser ein "Palazzo Strozzi in Beton", für die New York Times 1969 "eines der schönsten und stattlichsten Gebäude weit und breit" -, die mit ihrem Gigantismus den Bürgern ihre Bedeutung symbolisieren sollte. Oder die geschwungene Kirche von Claude Parent und Paul Virilio in Frankreich, die Gläubige so schützen dürfte wie Elefantenkühe ihre Kälber. Nicht zu vergessen all die Ost-Kapriziosen, vom Sanatorium auf Stelzen in der Ukraine bis zum Moskauer Haus der Piloten - "Hundertfüßer" von der Bevölkerung genannt.

Die Begeisterung der Fans schlägt sich nicht in allgemeiner Wertschätzung nieder

Die skulpturale Formensprache hat den Gebäuden in den vergangenen Jahren viel Popularität verschafft. Kiloschwere Coffee Table Books huldigen dem Brutalismus, gerne in dramatischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Architekturblogs feiern die Bauten mit ausführlichen Fotostrecken, über Twitter teilen Enthusiasten ihre Favoriten, allein: Die Begeisterung der Fans schlägt sich nicht in der allgemeinen Wertschätzung nieder. Deswegen ist die Ausstellung so wichtig. Im Katalog schreibt Elser: "Das Projekt ,SOS Brutalismus' zielt darauf ab, (...) die Lücke zwischen diesen zwei Welten mit einer Kampagne zu schließen, die das Momentum aufnimmt und die Energie aus den Filterblasen des Internets dorthin zu lenken versucht, wo Bagger und Abrissbirnen darauf warten, das nächste Betonmonster zu zerstören."

Nach dem Schwelgen in Beton deswegen erst einmal eine Definition dieser Architektur. Am besten fängt man mit dem Begriff an. Denn was sich liest, wie die Umwandlung des Adjektivs brutal in Beton, stammt tatsächlich von einer Sorte gerade diesen: Beton Brut, also unverarbeiteter, quasi roher Beton, dessen Schalung man bis zur Holzmaserung und den Ankerlöchern studieren kann. Was so modern industriell tut, ist ja immer noch pure Handarbeit. Und die darf man im Brutalismus sehen. Wer einmal in Indien vor Le Corbusiers Gebäuden in Chandigarh gestanden hat, der meint den Bauprozess in den Fünfzigerjahren miterleben zu dürfen, so sehr haben sich dort die Spuren der Bauarbeiter in die Betonoberflächen geprägt.

Der späte Le Corbusier, ein ausgesprochener Fan von Beton Brut, ist denn auch der unangefochtene Übervater der Bewegung, mit seiner Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut, diesem hin- und herwabernden Sahnetupfen der Architekturgeschichte, vor allem aber mit seiner Unité in Marseilles, der massiven Wohnmaschine, und mit dem Kloster Sainte-Marie de La Tourette, das neben der Boston City Hall, einer Unzahl brutalistischer Gebäuden Pate stand. Der Begriff jedoch stammt vom britischen Architektenpaar Alison und Peter Smithson, die ihn 1953 in einem Architekturmagazin zum ersten Mal fallen ließen. Danach wird es kompliziert, doch die zentralen Kriterien dieser Bewegung sind klar: Dem Brutalismus ging es um die Ablesbarkeit der Konstruktion und der Verwendung unveredelter Materialien, egal ob es sich dabei um Beton oder Backstein handelte. Weswegen die von Max Bill 1953-55 entworfene Ulmer Hochschule für Gestaltung genauso der Gründungsbau des Brutalismus sein könnte wie die Secondary Modern School (1949-1954) der Smithsons in Hunstanton, die gemeinhin als dieser gilt und der die Architekturwelt ihr berühmtestes Waschbeckenbild verdankt: Becken in Reih und Glied, jede Konstruktion offen sichtbar, bis zum Ablauf des Wasser. Material pur also, nichts wird versteckt, die Schule führt ihr Besteck vor.

Die Ausstellung beschäftigt sich jedoch weniger mit den Gründungsbauten als mit dem, was ab Mitte der Sechziger folgte: eine wahre Betonwelle, die sich über die ganze Welt brach. Und das ist die erste Entdeckung der Schau: Der Brutalismus war eine globale Bewegung. Afrika baute sich genauso enthusiastisch seine Betonmonster wie Japan oder Indien. Nur China gab den Spielverderber. Dem Staat waren die Gebäude zu kapriziös, zu individualistisch. Was zeigt, wie lustvoll hier die Zeitgeschichte in Beton abgegossen wurde. Das Gegenteil vom Dogma heute, das von der Gestaltung ewige Zeitlosigkeit einfordert.

Der Brutalismus sollte die Rolle des Botschafters übernehmen, wo das Land stand, was es wollte, wie es sich selbst sah, all das lässt sich in den Entwürfen bis heute ablesen. So feierten Indien, afrikanische Länder wie Marokko oder Sambia, aber auch südostasiatische wie Kambodscha und die Philippinen mit den Gebäuden dieser Zeit laut- und formstark ihre Unabhängigkeit von den Kolonialherren. Japan und Europa orderten sie zum Wiederaufbau nach dem Krieg. Und alle einte nicht nur der Wille zur Modernisierung, sondern auch ein heute unvorstellbarer Zukunftsoptimismus.

Jeder Umbau wäre weniger unökologisch als ein Neubau

Was die Bauherren jedoch unterschied, und das ist die zweite Entdeckung dieser Schau, ist die regionale Ausprägung, die der Brutalismus vor Ort erfuhr. Ganz anders als der International Style, der identische Architektur quasi vom Fließband in die Welt liefern wollte, erlaubte sich die folgende Generation einen Lokalpatriotismus. Schon weil nicht überall qualifiziertes Personal im Einsatz war. Was aber nicht als Nachteil gesehen wurde, denn die Handarbeit sollte ja sichtbar bleiben. Etwa wenn die feinen Betonlisenen händisch einzeln freigeschlagen wurden, was der Oberfläche ein wenig die Anmutung einer Tropfsteinhöhle verleiht und zum Markenzeichen von dem US-Architekten Paul Rudolph wurde. Mit abschätzigem Blick auf die Glaskästen des International Style argumentierte er, es gäbe "zu viele Goldfischgläser und zu wenig Höhlen". In São Paulo sorgten ungelernte Arbeiter für eine fleckige Außenwand bei der Fakultät für Architektur und Städtebau - was aber als Ornament statt Makel durchging.

Der Brutalismus reagierte auf Ort und Umgebung, was die Hauptkritik an seinen Bauten, sie seien stupide Betonklötze, entkräften würde, wenn, ja wenn nicht der Drang zum Muskelspiel wäre. Ihre Masse macht die Gebäude verschlossen und schirmt sie ab, was der Grund dafür ist, dass die internationale Bestandsaufnahme der Bewegung - großzügig unterstützt von der Wüstenrot-Stiftung - so viele brutalistische "Zeitkapseln" fand: aus der Zeit gefallene Gebäude, die im Inneren aussehen als hätten die vergangenen 40 Jahre nie stattgefunden. Das ist der Grund für Euphorie - und Todesurteil zugleich.

Denn brutalistische Gebäude werden ja so häufig abgerissen, weil die Vorstellungskraft fehlt, wie Bauten für eine Zukunft nutzbar gemacht werden können, die so für die Vergangenheit stehen. Nicht selten werden sie auch für ihre Epoche verantwortlich gemacht. Zudem erscheint ihre Bauweise in Zeiten von Energieeinsparverordnungen geradezu als unverantwortlich.

Dabei ist das Gegenteil der Fall. "Jeder Umbau ist ressourcenschonender als ein Neubau", weiß der Katalog. Zudem gewänne man durch den Erhalt Qualitäten, die bei einem Neubau unvorstellbar sind. Großzügige Freiflächen etwa, wo sich die Gesellschaft begegnen kann. Denn auch das macht diese Giganten aus Beton so liebenswert. Ihr öffentlicher Anspruch ist so massiv wie der Beton ihrer Wände.

SOS Brutalismus. Rettet die Betonmonster! Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt. Bis 2. April. Der vorzügliche Katalog kostet 68 Euro. Info: www.dam-online.de

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Quelle:
SZ vom 02.12.2017
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