Süddeutsche Zeitung

Architektur:Blasenkrank

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Zu Besuch in Europas größtem Büroviertel La Défense in Paris, das nach dem Brexit das Erbe Londons antreten will: Gebaut wurde es als Vision für morgen - doch es erzählt heute eher als Nostalgie der Moderne von gestern.

Von Joseph Hanimann

Vom Schriftsteller Guy de Maupassant ist die Bemerkung überliefert, der beste Wohnort in Paris sei der Eiffelturm, weil man nur von dort dieses hässliche Bauwerk nicht sieht. Manche würden das heute gern auf die Satellitenstadt La Défense anwenden - mit ihrem bezaubernden Blick auf Triumphbogen, Champs-Élysées, Louvre, Sacré-Coeur und den Eiffelturm. Auffälliger als der Blick ist für den Flaneur zwischen den Bürotürmen von La Défense zunächst aber die Stille. Kein Autolärm weit und breit, nur das Tippeln der zu Tausenden Dahineilenden, das Plaudern bei der Zigarettenpause am Eingang der Glastürme, das Pfeifen des Windes um die Fassaden und das Schweigen in den Baumalleen, die von Vögeln gemieden werden. Denn das 160 Hektar umfassende Quartier mit seinen 71 Hochhäusern und gut dreieinhalb Millionen Quadratmetern Bürofläche ist hauptsächlich auf ein durchgehendes Betonplateau gebaut. Alle Zugangswege per Bahn, Bus und Auto verlaufen unterirdisch. Die Oberseite des Plateaus ist den Fußgängern vorbehalten.

Würde man so auch heute ein neues Geschäftsviertel bauen? Wohl kaum, zumindest nicht in Europa. Was vor Jahrzehnten in mustergültiger Anwendung der Moderne-Baufibel "Charta von Athen" umgesetzt wurde, also vor allem die funktionale Trennung von Wohnen und Arbeiten, hat sich als falsch erwiesen. Der Plateau-Urbanismus der Nachkriegszeit hat eine nicht wandlungsfähige Infrastruktur geschaffen, die an ihrer aufgestelzten Oberseite das Prinzip der künstlichen Topografie nur immer weitertreiben kann und im labyrinthischen Gewusel darunter so manches unbewältigte Problem verscharrt. Das Gründungsjubiläum des EPAD, des staatlichen Établissement Public d'Aménagement de la Défense, bot gerade Gelegenheit, eine städtebauliche, architektonische und sozioökonomische Zwischenbilanz dieses 1958 lancierten Unternehmens zu ziehen, das heute darauf aus ist, möglichst viele Früchte des Brexit zu ernten und sich als führender Handelsplatz Kontinentaleuropas zu behaupten.

Nach dem Brexit soll das Pariser Hoch-hinaus-Viertel London beerben

Der Name, der auf eine 1883 dort errichtete Bronze-Skulptur mit einer wehrhaften Kriegerin in Erinnerung des deutsch-französischen Kriegs zurückgeht, klingt zwar eher defensiv. Ziel des Bauprojekts war aber, am Westrand von Paris eine dynamische Trabantenstadt des Geschäftslebens zu errichten. Auf dem Boden der dortigen Vorstadtgemeinden, wo im Schlamm der "Bidonvilles" die Pariser Elendsbevölkerung hauste, war bereits 1956 der technologische Prestigebau des CNIT, des Centre National des Industries et Techniques, von Bernard Zehrfuss, Jean Prouvé und anderen berühmten Modernisten entstanden. Die dreifüßig geschwungene Halle mit 218 Metern Spannweite ist ein Musterbeispiel architektonischer Nachkriegsmoderne, heute allerdings leider mit Läden, Büros und einem Hotel vollgestellt. Sie bildet einen städtebaulichen Ankerpunkt von La Défense auf der Verlängerungsachse der Champs-Élysées, über welche die Könige einst aus dem Louvre nach Versailles fuhren. Unter dem Präsidenten Mitterrand wurde dieser Monumentalachse mit dem Bau der "Grande Arche", einem torartigen Hohlwürfel des dänischen Architekten Otto von Spreckelsen in der Sichtperspektive des Arc de Triomphe, 1989 ein Denkmal gesetzt.

Das, was an diesem Ort seit sechs Jahrzehnten entsteht, erscheint wie ein Katalog der Hochhausbau-Varianten im Rhythmus von Wirtschaftsboom und Wirtschaftskrisen. Auf die reguläre Standardhöhe von hundert Metern in den Sechzigerjahren folgte in den Siebzigern der Wildwuchs der Formen, dann der Krisenknick und ab den Achtzigern der Versuch einer kohärenten Gesamtplanung. Das bisher höchste Bauwerk ist der 231 Meter aufragende "First"-Turm von Kohn Pedersen Fox aus dem Jahr 2011. Für die kommenden Jahre sind das "Trinity"-Haus von Cro & Co Architecture, das "Hekla" von Jean Nouvel, der Doppelturm "Sisters" von Christian de Portzamparc oder das 324 Meter hohe "Hermitage Plaza" von Norman Foster geplant.

Treffender als der Ausdruck "Satellitenstadt" wäre für La Défense aber das Wort "Stadtblase". In all den Jahren ist es nicht gelungen, sie zum Platzen zu bringen und das Quartier mit dem umliegenden Vorstadtgebiet zu verschmelzen. Als Fremdkörper hat sie den Nachbargemeinden ihr Profil aufgedrängt, mit dem Ergebnis, dass diese sich von ihr abwandten. Erst im vergangenen Jahr rang der Staat sich dazu durch, die Planungskompetenz an die Lokalbehörden abzugeben. "Diese Bürostadt ist aus den Vorstellungen des 20. Jahrhunderts entstanden, das heißt Vertikalstruktur, Funktionentrennung, Zonenplanung, Hierarchie, und sie hat sich wie ein Hors-Sol-Produkt entwickelt", gibt Marie-Célie Guillaume, die Chefin des neuen Führungsgremiums Paris La Défense, bereitwillig zu. Das solle nun korrigiert und die Bürostadt den neuen Arbeits- und Lebensformen angepasst werden. Die das Areal umkreisende Schnellstraße wird als Stadtboulevard "befriedet", die Verästelung in die Nachbarschaft intensiviert, die soziale Durchmischung vorangetrieben und das ganze Geschäftsviertel durch ein attraktiveres Sport- und Kulturangebot zu einem "Lebensraum" gemacht.

La Défense als "menschliches, lebendiges, quirliges Quartier" war allerdings auch schon die Vision von Guillaumes Vorgänger zehn Jahre früher. Das Ergebnis lässt auf sich warten. Nicht, dass der Ort ein Albtraum wäre. Diese größte Fußgängerzone Europas hat mit ihren Spazierwegen, Stadtausblicken und Himmelssegmenten, mit ihrer doch recht abwechslungsreichen Architektur und ihren Skulpturenparks tagsüber manches für sich. Abends und am Wochenende ist die Gegend jedoch tot, als wollten sich die Ortsansässigen auf den 600 000 Quadratmetern Wohnraum vor der Leere draußen verbarrikadieren.

200 000 Menschen kommen täglich hierher, um zu arbeiten. Aber nicht, um zu leben

"An die 200 000 Menschen kommen täglich von anderswo in diese Bürotürme angeschwemmt und zehntausend schweifen von hier aus in andere Stadtteile - das ganze System ist schief", sagt der Urbanphilosoph Thierry Paquot. Ihm zufolge gibt es an La Défense wenig zu korrigieren. "Aus La Défense kann immer nur La Défense werden", sagt er. Die neuen Mischformen von Lebens- und Arbeitszeit könnten in dieser verdichteten und in die Höhe getriebenen Plateau-Architektur nicht Fuß fassen. Und überhaupt hält Paquot Wolkenkratzer für ein überholtes Modell. Es habe die Zersiedelung unserer Städte keineswegs aufgehalten, ganz im Gegenteil, schreibt er in seinem Buch "La folie des hauteurs" (Höhenwahn). Er ist überzeugt, dass Hochhäuser innerhalb weniger Jahrzehnte von der Avantgarde zur Arrièregarde geworden sind und ihre Skyline heute eher nostalgisch als visionär anmutet.

Dem halten die Planer von La Défense pragmatisch Zahlen und Fakten entgegen. Die European Banking Authority beschloss im vergangenen Sommer, von London nach Paris La Défense umzuziehen. Paris sei die einzige europäische Weltstadt, die es mit London aufnehmen könne, erklärt Marie-Célie Guillaume, und gegenüber dem Frankfurter Bankenviertel oder Brüssel-Nord habe La Défense den Vorteil, über den Bank- und Versicherungssektor (rund ein Drittel) hinaus ein reiches Aktivitätsspektrum zu bieten. 250 000 Quadratmeter neue Bürofläche soll bis zum Jahr 2020 entstehen, die fossile Energie durch den Einsatz von Biomasse aber gleichzeitig halbiert werden.

Bleibt die Frage des Images dieser Trabantenstadt. Einen Ausflug ist sie für interessierte Stadtflaneure durchaus wert. Welche Gründe gibt es aber, ein zweites oder drittes Mal zu kommen? Über die Werktagsgeschäftigkeit hinaus hat La Défense nie zu einer substanziellen Identität gefunden. Auch das Monument der Grande Arche hat als kulturelle Institution keine Geschichte gemacht und bleibt ein schlichter Ausstellungsort. Im Unterschied zu Moswva City oder manchen nahöstlichen Hochhauskomplexen kann der Pariser Hub nicht einmal mit dem Trumpf der Hässlichkeit im Sinne Maupassants aufwarten. Interessant bleibt er als Experimentierfeld dafür, wie weit ein überholtes Stadtmodell beim Klonen seiner selbst von sich selbst abrücken kann.

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SZ vom 22.01.2019
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