Süddeutsche Zeitung

Amerikanische Literatur:Im Zwischenreich

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Von Nicolas Freund

Das Kind des Präsidenten ist tot. Mit nur elf Jahren stirbt Willie, Sohn Abraham Lincolns, an einer Typhusinfektion. Es ist Februar 1862, der amerikanische Bürgerkrieg tobt seit bald einem Jahr, auf den gefrorenen Feldern fallen Tausende Soldaten und der Präsident wacht am Grab seines toten Sohns.

George Saunders hat die historischen Ereignisse dieser Tage im Weißen Haus und auf dem Oak-Hill-Friedhof für seinen ersten Roman in eine ungewohnte Form gebracht. Nicht nur, weil es sich bei "Lincoln im Bardo" um eine Gespenstergeschichte handelt, sondern vor allem, weil der Roman ausschließlich aus zitierten und erfundenen Stimmen zusammengestellt ist. Bedienstete erzählen von der Todesnacht Willies und Soldaten von den ersten großen Schlachten des Krieges. Manchmal liegen diese Berichte weit auseinander, wenn einmal ein goldener Mond die Nacht erhellt, die im nächsten Zitat als wolkenverhangen und mondlos beschrieben wird. Neben diesen historischen Stimmen aus Briefen und Büchern stehen die erfundenen Stimmen einer ganzen Reihe von Gespenstern, die von ihrem eigenen Tod nichts wissend oder wissen wollend das Schicksal Willies und ihr eigenes kommentieren. Die Toten in diesem Buch sind in einer Art Zwischenreich gefangen, dem titelgebenden Bardo, denn wie Willie oder die jungen Soldaten sind sie gestorben, obwohl sie noch etwas im Leben gehalten hat, um das sie nun in der zu späten Hoffnung auf Erfüllung kreisen, ohne loslassen zu können. Bei manchem reicht dazu bereits die Aussicht auf den nackten Körper einer jungen Frau. Überraschenderweise ist das oft sehr komisch in seiner Widersprüchlichkeit und Collagenhaftigkeit. In der Nichtigkeit und Eitelkeit der verflossenen Wünsche und Träume dieser Gespenster ist die Erzählung aber zugleich auch sehr menschlich und gelassen im Umgang mit dem Tod.

Diese formal wie inhaltlich recht waghalsige Romankonstruktion gelingt Saunders verblüffenderweise, denn der Chor der Gespenster, den er die Geschichte vortragen lässt, ist in seiner Vielstimmigkeit nur die Radikalisierung eines Prinzips, das fast jedem Roman zugrunde liegt. Der Dialog, Austausch und Widerspruch verschiedener Stimmen ist für den Roman gattungsbestimmend. "Lincoln im Bardo" ist ein so spannendes und seltenes Buch, weil der Text seine eigene Form betont, die sonst bei den meisten Gegenwartsromanen dazu tendiert, möglichst unsichtbar zu sein. Wie etwas erzählt wird, ist hier ebenso wichtig wie das, was erzählt wird.

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Quelle:
SZ vom 28.07.2018
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