Süddeutsche Zeitung

Amerika verstehen:Melancholisches Rätsel

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Mitch Epstein "Sunshine Hotel" ist das Psychogramm einer Nation.

Von Andrian Kreye

Es ist ja nicht erst seit der sogenannten Ära Trump, dass kritische Geister in Amerika ihre Heimat mit einer Mischung aus Begeisterung und Melancholie betrachten. Wenn sie sich wie der Fotograf Mitch Epstein ins Hinterland begeben, das - egal ob in der Stadt New York oder in der Prärie der Dakotas - oft gleich hinter der nächsten Straßenecke beginnt, entdecken sie, wie verwundbar ihr Land und seine Menschen doch eigentlich sind.

Und doch ist die Ära Trump der perfekte Zeitpunkt, Epsteins Arbeit noch einmal in einen neuen Kontext zu setzen. Gemeinsam mit dem Lektor Andrew Roth hat er sein Gesamtwerk aus den Jahren 1969 bis 2018 gesichtet und 175 Aufnahmen zu einem Psychogramm der Nation zusammengestellt. Sie haben das ohne Rücksicht auf Chronologien, ästhetische, geografische oder thematische Zusammenhänge getan. Es gibt keinen Begleittext. Selbst die Bildlegenden finden sich erst am Ende des Bandes, als sei er ein großes Rätsel, dessen Lösung einem partout nicht einfallen will.

Natürlich sind einem die Bilder vertraut. Man kennt die Details und Szenen aus dem kollektiven Gedächtnis des amerikanischen Jahrhunderts, das nun mit Trump zu Ende geht. Deswegen liegt in manchen Bildern auch so viel neue Bedeutung. Ivana Trump 1984 im Kreise euphorisierter Cheerleader im Trump Tower. Ein Schläfer 1977 am Rande des West Side Highway unter den Türmen des World Trade Centers. Was damals nur Seitenblicke waren, bekommt im poetischen Zeitfluss des Buches einen historischen Kontext, den man immer wieder aufs Neue entdecken kann.

Es ist ein Land, das seinen Bewohnern enorme Anstrengungen abverlangt, das Mitch Epstein seit seinem 16. Lebensjahr fotografiert hat. Ein Land, das immer noch nicht erobert ist, in dem die Gewalt in jedem Moment lauert und die brachialen Landschaften genauso abweisend sein können wie der Glamour und Glanz seiner Städte.

Epstein verstand sich jedoch nie als Reporter. Die Einflüsse von Robert Franks Bildband "The Americans" und Jack Kerouacs Roman "On the Road" sind unübersehbar. Auch wenn Epstein tiefer ins Detail geht. Das titelgebende Bild etwa, auf dem der "Sunshine Hotel"-Schriftzug in Normlettern auf einer frisch rot angestrichenen Betonblockwand klebt, bringt all die falschen Versprechen Amerikas auf einen minimalistischen Punkt.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2019
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