Süddeutsche Zeitung

"Als Einstein und Gödel spazieren gingen":Spaziergänge auf dem Campus

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Jim Holt erzählt von intellektuellen Errungenschaften. Seine "Ausflüge an den Rand des Denkens" sind unterhaltsam, aber manchmal allzu persönlich.

Von Nicolas Freund

Albert Einstein soll sehr viel Humor gehabt haben, Kurt Gödel dagegen gar keinen. Einstein ist Popkultur geworden, Gödel ist heute fast nur noch Mathematikern und Philosophen ein Begriff. Über beide kursieren viele Anekdoten, besonders in Einsteins Fall von oft fragwürdigem Wahrheitsgehalt. Lustiger sind meist die über Gödel, vielleicht, weil er eben nicht so bekannt ist. Daniel Kehlmann hat die besten davon 2011 in seinem tragikomischen Theaterstück "Geister in Princeton" zusammengetragen, etwa die Geschichte, dass Gödel eine Lücke in der amerikanischen Verfassung entdeckt haben wollte, die es einem Diktator erlauben würde, legal an die Macht zu kommen. Oder dass Gödel Gespenster gesehen hat und panisch Angst davor hatte, vergiftet zu werden, was schon wieder gar nicht so lustig ist.

Auch der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jim Holt hat solche Anekdoten über Gödel, Einstein und andere große Intellektuelle gesammelt mit einem Ziel, das dem Kehlmanns gar nicht so unähnlich ist: Er möchte den Leser von diesen ausgehend an den "Rand des Denkens" führen. "Als Einstein und Gödel spazieren gingen" heißt diese Sammlung von Aufsätzen, Porträts und Kritiken Jim Holts aus mehr als zwanzig Jahren, in denen es aber gar nicht nur um Einstein und Gödel geht.

Als die beiden Mitte des 20. Jahrhunderts im beschaulichen Princeton lebten, legten sie jeden Morgen gemeinsam den Weg zum Institute for Advanced Study zurück, das Forschungsinstitut, an dem sie beide auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Unterschlupf gefunden hatten. Da drängt sich die Frage auf, was zwei solche Ausnahmegenies denn jeden Morgen so zu diskutieren hatten. Und solche Fragen sind auch schon das größte Problem von Holts klugem Buch.

Einstein und Gödel sind eben nur ein halbes Dutzend der 24 langen und 15 kurzen Texte gewidmet. In den übrigen hat sich Holt andere, mehr oder weniger bekannte Wissenschaftler und Intellektuelle wie Francis Galton, Ada Lovelace oder Alan Turing gesucht und entlang deren Biografien oder anhand möglichst skurriler Anekdoten über sie die Eckpfeiler ihrer Theorien nachgezeichnet. In den Kapiteln über Grenzphänomene der Mathematik und Physik funktioniert das gut, auch mit lediglich mathematischen Grundkenntnissen lässt sich Holts Methode gut folgen, wenn er erklärt, worum es eigentlich bei der Riemannschen Vermutung geht oder wie die Ursprünge der Statistik und Eugenik zusammenhängen. Seine Herführung, wie die Idee einer vierten Dimension seit dem 19. Jahrhundert nicht nur die Mathematik, sondern auch Kunst und Theologie beeinflussten, ist im besten Sinne bewusstseinserweiternd und führt zumindest Laien in diesen Angelegenheiten an den Rand des Denkens.

Holt bricht solche Theorien oft in wenigen Absätzen so geschickt herunter, dass die Anschlüsse und Komplexitäten dahinter erahnbar werden, an fast immer den richtigen Stellen lässt er Lücken und lockert die Texte mit mal mehr, mal weniger interessanten biografischen Details der Urheber dieser Theorien auf. Mathematische Beweise findet man nur in gröbsten Zügen nachvollzogen, was in manchen Fällen, wie bei den Problemen des Infinitesimalen, schon komplex genug ist. Wenn passend, gibt Holt Beispiele aus Kunst und Literatur, in denen diese Theorien und Ideen verhandelt werden; im Fall des Infinitesimalen Voltaires Erzählung "Micromégas" über einen riesenhaften Außerirdischen, der die für ihn winzige Erde besucht.

In manchen Kapiteln rückt das Biografische sehr in den Vordergrund, wie bei dem russisch-amerikanischen Mathematiker Edward Frenkel und dessen Verknüpfung von Mathematik und Liebe, die sich neben einem Buch auch in einem von dem japanischen, nationalistischen Autor Yukio Mishima inspirierten Kurzfilm manifestierte, in dem der Körper einer nackten Frau über und über mit Formeln tätowiert wird.

Dem Kult um die großen Wissenschaftler schließt sich Holt meist bedingungslos an

Holts Methode, so anschaulich sie ist, balanciert zwischen unterhaltsamen, aber letztlich oft irrelevanten, teils reißerischen Banalitäten, die im besten Fall einen komplexen Sachverhalt illustrieren, häufig aber nur Skurrilitätswert haben, und ständig die komplexen Theorien, die überhaupt erst das Interesse an den Biografien ihrer Urheber rechtfertigen, zu über schatten drohen.

Anders gesagt: Wenn Roland Barthes 1968 in Bezug auf Literatur den Tod des Autors verkündete und mit gutem Grund die Autorität und Deutungshoheit eines Schriftstellers über sein Werk infrage stellte, wo enden dann die noch vertretbaren Bezüge zwischen mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorien und den Leben ihrer Urheber?

Zu diesem grundsätzlichen Problem kommt der Heldenkult, der manche dieser Wissenschaftler wie Einstein und Turing umgibt, und dem sich Holt in den meisten Fällen bedingungslos anschließt. Falls er ihn ausnahmsweise infrage stellt, dann gleich radikal, wie im Fall von Ada Lovelace, der Tochter Lord Byrons, die als eine der Vordenkerinnen des Computers gilt. Dieser Status ist tatsächlich umstritten, Holt betont immer wieder, wie schlecht Lovelace als Mathematikerin war, was nicht nur die grundsätzlichen Ideen, die sie mit Charles Babbage entwickelte, nicht mindert, sondern besonders unangenehm wirkt, weil in dem Buch sonst fast keine Frauen vorkommen.

Auch findet es Holt überraschenderweise nicht gut, wenn zum Beispiel Richard Dawkins in "Der Gotteswahn" "die Aufrichtigkeit ernsthafter Denker in Frage stellt". Dawkins werfe, so Holt, dem Oxforder Religionsphilosophen Richard Swinburne vor, den Holocaust theologisch zu rechtfertigen, während dieser nur versuche, "derart monumentale Übeltaten mit der Existenz eines liebenden Gottes überein zu bringen". Er unterschlägt, dass sich Dawkins in seinem Buch nicht über dieses theologische Gedankenspiel aufregt, sondern über Swinburnes Aussage, die er gegenüber ihm und dem ebenfalls in Oxford lehrenden Chemiker Peter Atkins geäußert hatte, der Holocaust sei für die Juden eine Gelegenheit gewesen, sich als mutig und edel zu erweisen, was eine wesentlich problematischere Aussage ist. Holt traf Swinburne für die Recherchen zu seinem letzten Buch "Gibt es alles oder nichts". Er beschreibt den emeritierten Theologen als "die Freundlichkeit in Person" und trinkt Tee in dessen Studierzimmer. Um die problematischen Aussagen zum Holocaust geht es in dem Kapitel nicht, auch mit Dawkins oder Atkins scheint Holt nicht gesprochen zu haben. Später heißt es lapidar nebenher, Albert Schweitzer sei ja auch als "Rassist verurteilt worden", was mindestens eine weitere unzulässige Verkürzung ist.

Holt hat mehrere der Protagonisten seiner Kapitel persönlich getroffen, vor allem am Center for Advanced Study in Princeton. Wegen der teils willkürlichen Kritik und andererseits kaum nachzuvollziehenden Verteidigungen, wie der Swinburnes, entsteht der Eindruck, persönliche Zu- oder Abneigung habe darüber entschieden, wen Holt lobt und wen er kritisiert. Die Texte in diesem Buch sind meistens populärwissenschaftlicher Journalismus, wie er sein sollte: unterhaltsam, neugierig machend, Komplexität andeutend und reduzierend, aber trotzdem auf dem Stand der Debatte. Dass der Autor manches zurechtrücken will, was ihm scheinbar nicht passt, und manchmal eine persönliche Rechnung begleicht, wäre nicht nötig gewesen. Das passiert eben, wenn die Personen wichtiger werden, als das, was sie geschrieben oder gesagt haben.

Jim Holt: Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens. Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 496 S., 26 Euro.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2020
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