Süddeutsche Zeitung

Alben der Woche:Das hilft

Lesezeit: 5 min

Irre Woche, mit neuer Musik von Stromae, RZA, Diplo, The Weather Station, "Band of Horses" und Anouchka Gwen. Alles: Balsam für die Ängste.

Von SZ-Popkritikern

The Weather Station - "How Is It That I Should Look At The Stars"

Dass die Weltlage (Krieg, Klimakrise et al.) nicht unbedingt zu ohnmächtiger Überforderung führen muss, zeigt die Folkmusikerin Tamara Lindemann alias The Weather Station auf ihrem neuen Album "How Is It That I Should Look At The Stars" (Fat Possum). Darauf verbindet die Kanadierin ihren Klimakummer mit den alltäglichen Neurosen einer Mittdreißigerin in ungeordneten Verhältnissen: Liebe, Trennung, unbeantwortete Nachrichten. Die zehn Songs dazu sind so fragil wie das Ökosystem eines Korallenriffs. Begleitet von Klavier, Klarinette, Gitarre und Kontrabass singt Lindemann mit tastender Stimme und man spürt sofort: Trotz Weltschmerz muss sie niemanden was beweisen. Das wirkt derzeit besonders therapeutisch. Timo Posselt

Band of Horses - "Things Are Great"

Dass man bei den sich überschlagenden Grundstimmungen gegenwärtig auch leicht danebenschießen kann, beweisen dagegen Band of Horses: "Things Are Great" (BMG) posaunt der Titel ihres neuen Albums und man möchte dem ja gerne zustimmen. Nur sind die Gegenbeweise gerade so erdrückend. Aber vielleicht ist das von der Rockband aus Seattle auch weniger als globaler Kassensturz gemeint und mehr als kleinräumigeres Versprechen? Nach dem Hören der zehn neuen Songs muss man aber leider sagen: Auch wenn alles großartig sein soll, viel ist vor allem beim Alten. Trotz Mitgliederwechsel und musikalischer Entschlackungskur sind nur die Beine etwas breiter hinter sehr potenten Gitarren aufgestellt. Ansonsten wird geschrammelt wie eh. Timo Posselt

Diplo - "Diplo"

Seltsam: ausgerechnet Diplo. Und ausgerechnet auf dem selbstbetitelten Album (Warner Music). Der Produzent, der sonst doch so etwas wie einen Signature-Sound in den Electro bringt, einen unverkennbaren Stil. Ein paar Takte genügten ihm doch bislang, damit man wusste (ob man es nun mochte oder nicht), dass es nur er sein kann. Das war bei Major Lazer so, und noch mehr bei der wirklich brillanten Allstar-Formation LSD (zusammen mit der absolut grandiosen Sia und dem Sänger Labrinth). Zuletzt dann als Thomas Wesley, dem Alias, unter dem er Country und Dance-Music zusammenbringt, und zwar fantastisch, stimmig - zwingend beinahe. Und der klingt jetzt plötzlich ganz verwirrend austauschbar. Überraschend naheliegende Produktions- und Songwriting-Ideen. Irre erwartbare Dramatik in den Arrangements. Sehr gewöhnliche Sounds. Womöglich irrt man sich und es gibt Tiefen in diesem Album, die man erst mit der Zeit auslotet. Das wäre toll. Und bis dahin wäre zum Beispiel "Heaven" vom LSD-Album noch mal ein dringender Anspieltipp. Jakob Biazza

Anouchka Gwen - "Utopia"

Nicht bloß emotionale Entlastung, sondern eine Gegenwelt verspricht das Debütalbum "Utopia" (Irascible) der Schweizer Musikerin Anouchka Gwen. Der Anstoß zu den neun Songminiaturen darauf sind Gwens Erlebnisse als Person-of-Color in ihrer Heimat. Doch statt die Ohnmacht und Wut über den Rassismus im Kleinstaat in Songs zu schütten, hat Gwen mit der Basler Produzentin Alexia Thomas ein intimes Album gezimmert, das weniger nach Barrikade als nach geerdetem Rückzugsort klingt. DIY-Schlafzimmer-Beats, dubbiger Bass und die soulige Heizstrahler-Wärme von Gwens Stimme. Da will man sofort einziehen. Timo Posselt

Nilüfer Yanya - "Painless"

Weniger mit jenem in planetarer Tragweite, sondern dem persönlichen Schmerz kennt sich Nilüfer Yanya aus. Schon in einer EP von 2018 fragte sie unbefangen: "Do You Like Pain?" Nun gibt sie ihrem neuen Album den trotzigen Titel "Painless" (ATO Records). Dass die 26-jährige Tochter eines britisch-türkisch-barbadisch-irischen Künstlerpaars alles andere als schmerzfrei ist, war klar, dass aber dieses Album so gut wird, nicht unbedingt. Yanya ist darauf immer beides: eine postmigrantische Jeanne d'Arc mit Gitarre und ein emotionales Wrack. "Good luck human if that's your choice", singt sie über ein ungewaschenes Riff. Klingt so die Millennial-Panik irgendwo zwischen Angstzuständen und drohendem Atomkrieg? Egal, das hilft. Timo Posselt

Stromae - "Multitudes"

Stromae hat ein neues Album. Es heißt "Multitudes" (Universal Music). Der Belgier hat sich dafür von Volksmusik aus der ganzen Welt inspirieren lassen, und die unterschiedlichsten Einflüsse zu etwas Neuem gepaart. Um alle Stile herauszuhören, müsste man mit Musik aus der Westlichen Sahara ebenso vertraut sein wie mit kolumbianischem Cumbia oder Reggaeton, der sich Mitte der 1990er in Puerto Rico aus Reggae, Hip-Hop, elektronischer Musik und lateinamerikanischen Einflüssen entwickelt hat. Den Liner-Notes ist zu entnehmen, dass auf dem Album ein Charango vorkommt, ein Zupfinstrument aus den Anden, sowie die persische Ney-Flöte. Und eine Erhu, eine mit dem Bogen gespielte, zweisaitige chinesische Laute. Außerdem gibt es einen bulgarischen Frauenchor, lateinamerikanische Rhythmen und und und. Klingt in der Theorie natürlich fürchterlich. Hört sich aber in echt kein bisschen nach irgendetwas an, das sich in einer Fußgängerzone auf Panflöten nachspielen ließe. Dafür ist es viel zu sehr Stromae. Johanna Adorján

Kaina - "It Was a Home"

Die Sängerin Kaina kommt aus Chicago, "It Was a Home" (City Slang) ist ihr zweites Album. Es klingt irgendwie zeitlos, wie aus den Neunzigern gefallen, ein Traumrest aus Soul, R'n'B und Musikfernsehen. Erinnert sich noch jemand an Musikfernsehen? Man konnte nicht skippen. Man musste jeden einzelnen Song bis zum Ende aushalten, außer man schaltete um oder ab. Was das für die Charakterbildung tat! Kaina hätte man aber sowieso nicht geskippt. Kaina besingt Äpfel und Spiegel. Softe Vocals, warme Klänge. "I used to live in a little room in a little house with a crooked view" beschwört sie im titelgebenden Track, "It Was a Home", alte Erinnerungen. Das Zuhause, das sie besingt, ist dabei so universell und unspezifisch, wie wenn sie einen Song später summt, sie habe ab und zu ein gutes Gefühl. Ungelogen. Wir auch. Nur derzeit eher nicht. Juliane Liebert

Vitalic - "Dissidænce Episode 2"

Da ist es doch beruhigend, dass es Vitalic noch gibt. Der französische Technoproduzent hatte im Oktober vergangenen Jahres "Dissidænce Episode 1" herausgebracht, jetzt folgt "Episode 2" (Clivage Music), und die ist noch düsterer und wütender als der Vorgänger. Die Art Techno, die um 2010 in Berliner Clubs wie dem Mikz auf der Partyreihe "Robot Army" gespielt wurde. Man kann den Schweiß und den Dampf der Nebelmaschinen riechen, die Straßen sind dreckig, die Sonne geht über der Warschauer Brücke auf, die Miete für eine Fünf-Zimmerwohnung (Altbau) beträgt 250 Euro warm, irgendwo weint leise Paul Kalkbrenner. Was ist passiert, Paul? Wo sind wir falsch abgebogen? In Vitalics "The Void" wiederholt eine monotone Stimme "I belong to the void", ich gehöre ganz der Leere, immer und immer wieder, aber diese Leere ist natürlich belebt, eine Kakophonie dutzender Stimmen, Drums und Geräusche trägt sie. Solche Musik gehört nicht auf Laptop-Lautsprecher, sie gehört ins Halblicht der Clubs. Gut, dass Vitalic bald auf Tour geht. Hoffen wir, dass er die Leere mitbringt, um all die überforderten Herzen und Hirne zu beruhigen. Juliane Liebert

RZA & DJ Scratch - "Saturday Afternoon Kung Fu Theater"

Wenn Wu-Tang-Clan-Legende RZA und DJ Scratch ein Album ankündigen, hört man besser genau hin. Das oft verschobene "Saturday Afternoon Kung Fu Theater" (36 Chambers / MNRK Records) erscheint diesen Freitag nun endlich tatsächlich. Die Tracks sind während der Pandemie entstanden, sie basieren auf unfertigen Skizzen, die im Rahmen der Produktion für die Wu-Tang-Doku "Wu-Tang Clan: Of Mics and Men" entstanden. RZA und DJ Scratch haben sie gemeinsam ausgearbeitet. Im Video zur titelgebenden Single sieht man einen kleinen Jungen mit Spielzeugfiguren Krieg spielen, bis er vom TV abgelenkt wird - wo eine Robotervariante von RZA mit sich selbst kämpft. RZA beschreibt das Album als Liebesbrief an die Kung-Fu-Filme, die jeden Samstag auf lokalen Fernsehkanälen liefen, "als es nur fünf Kanäle zur Auswahl gab". Die Fernsehnostalgie ist allgegenwärtig. Fernseher konnte man halt ausstellen. Das war schön. Ach so: Der Sound auf "Saturday Afternoon Kung Fu Theater" ist solide, wenig überraschend - im Guten wie im Schlechten. Man fragt sich kurz, welches Jahr man hat, aber von RZA hatte eh niemand Hyperpop erwartet. Juliane Liebert

Blue J - "A Sign of Good Luck"

Es ist einfach immer, immer sehr gefährlich, Männern eine Gitarre in die Hand zu geben. Es sollte Gitarrenscheine geben, wie es Waffenscheine gibt, um größeres Übel zu verhindern. Das denkt man auch bei Blue Js Debütalbum "A Sign of Good Luck" (Nettwerk Music Group). Dabei machen Blue J an sich nichts verkehrt. Die Gitarrensoli sitzen und alles ist an seinem Platz. Ihr Pech ist eher, dass wir eben schon die Eels haben und Weezer, wenn wir irgendwie belanglosen Indie von Menschen hören wollen, die sogar unsere Mütter schon beim ersten Treffen langweilig fänden (auch wenn sie zu nett wären, was zu sagen, immerhin "ist der junge Mann sehr höflich und hat Blumen mitgebracht".) Juliane Liebert

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