Süddeutsche Zeitung

Alben der Woche:"100 K an meiner Vene"

Lesezeit: 3 min

Fler trägt, Überraschung, teure Uhren. Dazu: Noga Erez, "Rural Internet", Ben Howard und die Antwort auf die Frage, wie man das Spiel des Lebens mit leeren Händen spielt.

Noga Erez - "Kids" (City Slang)

"Dance While You Shoot" von der israelischen Sängerin und Rapperin Noga Erez ist bis heute womöglich der unbekannteste unwiderstehliche Elektro-Dance-Knaller der jüngeren Popmusikgeschichte. Auf ihrem neuen zweiten Album "Kids" (City Slang) sind jetzt mit "You So Done", "No News On TV", "End Of The Road" oder "Views" mindestens vier weitere grandios funky-verstolperte Indie-Hip-Hop-Wunder. Gut möglich, dass es wieder nix wird mit der verdienten großen Aufmerksamkeit, aber das heißt ja nicht, dass jede und jeder, der dies liest, da mitmachen muss. Das Album der Woche der Welt. Jens-Christian Rabe

Tune-Yards - "Sketchy" (4AD)

Wenn es eine Rangliste der selbstkritischsten, progressivsten weißen Indie-Pop-Stars gäbe, die amerikanische Avantgarde-Pop-Produzentin, Sängerin und Songwriterin Merrill Garbus alias Tune-Yards läge uneinholbar weit vorn. Auf die Kritik etwa, auch und gerade so multikulturell-experimenteller Indie-Pop wie ihrer bereichere sich gedanken- und rücksichtslos an Sounds und Strukturen, die ihre Wurzeln in der Arbeit von People of Color haben, reagierte sie schon vor Jahren, indem sie einen sechsmonatigen Antirassismus-Workshop absolvierte. Auch mit dem amerikanischen Netzwerk "Standing Up for Racial Justice" beschäftigte sie sich intensiv. Dessen Ziel ist es, weiße Menschen dazu zu bringen, sich zu verhalten, als seien sie Teil einer "multi-racial majority", einer vielfältigen Mehrheit. Selbst den Eindruck, sich mit Derartigem womöglich nur moralisch freikaufen zu wollen, denkt sie mit. Weniger vertrackt und eklektisch ist ihre Musik, für die Garbus mit Funk, Soul, Elektro und Afrobeat jongliert, darüber zum Glück nicht geworden. "Sketchy" (4AD) ist als gekonnt verwackelte Stop-and-go-Soundcollage einem supersmarten Pop-Hörspiel wieder etwas näher als einem klassischen Album. Jens-Christian Rabe

Fler - "Widder" (Maskulin/Universal)

Wer wissen möchte, wie es um den deutschen Gangsta-Rap gerade steht, sollte zum Beispiel mit Haftbefehl reden. Der hat jüngst erzählt, seine teuren Uhren (das Top-Modell, "Cartier, schwarze Diamanten, vollbesetzt. Direkt vom Werk.", bringt es angeblich auf 60 000 Euro) würde er inzwischen nur noch tragen, "wenn ich ein Interview hab' oder ein Video drehe, weil ich ja Rapper bin. Da muss ich eine haben, sonst sagen meine Kollegen, ich bin pleite". Das sei so ein Klischee. Aber man müsse mitmachen. "Widder" (Maskulin/Universal), das wirklich fundamental uninspirierte neue Album von Fler ("Trage die Patek Philippe, 100 K an meiner Vene"), zeigt: Mehr muss man dazu auch nicht sagen. Jakob Biazza

Rural Internet - "Breaking Up" (Bandcamp)

Was tut man, wenn man sich angesichts des Musiküberflusses im Netz nicht für ein Genre entscheiden kann oder will? Genau, man benutzt sie einfach ungefähr alle - rappt dazu und schiebt ein paar clevere, kantig-nervöse Hip-Hop-Beats und -Breaks darunter. Und darüber. Und dazwischen. Das amerikanische Duo 100 Gecs ist so völlig zu Recht als gegenwärtigste Band dieser Tage berühmt und berüchtigt geworden. Das amerikanisch-australische Trio Rural Internet, dessen Debüt "Breaking Up" (Bandcamp) jetzt erscheint, trägt das Netz konsequenterweise gleich im Namen. Und was soll man sagen: ultranervöser Pop-Eklektizismus vom Feinsten, zu gleichen Teilen dystopisch und euphorisch. Wall of Sound 4.0. Drängelnd-dräuende Schnipsel-Musik, bei der man auch mal nicht sofort bemerkt, wenn man denselben Song versehentlich in zwei Computerfenstern kurz nacheinander geöffnet hat und ihn also doppelt, aber ganz knapp nicht synchron hört. Man probiere nur mal "Government". Das Gegenteil von gemütlich, aber doch irgendwie auch irritierend kathartisch. Jens-Christian Rabe

Ben Howard - "Collections From The Whiteout" (Island Records)

Es geht im Indie-Folk ein besonderer, tiefer, warmer, beruhigend geruhsamer und zeitloser Zauber aus von Stimmen, die etwas können, was man vielleicht "mit voller Kraft samten singen" nennen kann. Gern einen Tick nasal angequengelt oder heiser gesummt. Wer braucht schon Erlösung, wenn man im Diesseits solchen Trost bekommen kann? Die Musik von Sängern und Songwritern wie Nick Drake oder John Martyn altert dementsprechend irrsinnig gut. Oder eben überhaupt nicht. Auch 40 oder 50 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen kann man sie sich um die geschundene Seele legen wie einen weichen, vorgewärmten Schal. Man fühlt sich nicht einmal formelhaft verschaukelt, wenn man ganz Ähnliches heute von Bon Iver oder Nick Mulvey hört. Oder von dem 1987 geborenen britischen Sänger und Gitarristen Ben Howard, dessen viertes Studioalbum "Collections From The Whiteout" (Island Records) in dieser Woche erscheint. In der britischen Variante werden die menschlichen Schwächen und Abgründe auf der Textebene etwas weniger bierernst solipsistisch genommen, eher freundlich selbstironisch, mitfühlend weltweise, staunend auch: "To play the game without a hand / You really must be a stand up man!" - wer das Spiel mit leeren Händen spielen will, der muss ein Stehaufmännchen sein, singt Howard etwa in "Sorry Kid". Der Song ist sein Kommentar zur Geschichte der russisch-deutschen Hochstaplerin Anna Sorokin, die 2019 wegen Betrugs ins Gefängnis musste, nachdem sie sich in die wohlhabendsten Kreise New Yorks gemogelt hatte. Jens-Christian Rabe

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