Süddeutsche Zeitung

Brexit-Kolumne "Affentheater":Dem Virus sind rassistische Fantasien egal

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Covid-19 könnte das Ende der britischen Regierung bedeuten - auch, weil es die Vermischung von Fakt und Fiktion aufhebt, auf die Boris Johnson sich stützt.

Kolumne von A. L. Kennedy

Darf ich Ihnen zunächst mal gratulieren, Menschen in Deutschland? Sie haben die Verbindung zwischen gewalttätiger Rhetorik und physischer Gewalt schnell wiederhergestellt, und die "Alternative" für Ihre Zukunft scheint auf dem Rückzug. Wenn man seine Führung eher nach Kriterien der Reinheit aussucht als nach Fähigkeit und Menschlichkeit, nun - dann wird man am Ende von Killerclowns wie unserem neuen Kabinett regiert. Jede noch so kleine Spur von Kompetenz ist getilgt worden bei jenen, die uns durch einen Klimanotstand, durch einen Pandemienotstand und natürlich durch einen Brexit-Notstand führen sollen.

Die nur knapp als fühlendes Wesen kategorisierbare Seifenskulptur Michael Gove - aus irgendeinem Grund unser Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten - hat neulich verkündet, er müsse derzeit jeden Tag fast 60 neue fertig ausgebildete Zollbeamte einstellen. Da dies unmöglich ist und Gove schon sichtlich überfordert mit grundlegenden Tätigkeiten wie Gehen, Klatschen oder Stehen, wurde diese Nachricht ebenso erfreut aufgenommen wie Popo der Premierminister bei seinem letzten bizarren Krankenhausbesuch. (Er schlich sich um Mitternacht hinein, wahrscheinlich in der Hoffnung, nur schlafende oder todkranke Patienten vorzufinden, die zu schwach sind, um ihn zu verabscheuen. Wieder daneben.) Allein die Gerüchte über seinen Missbrauch illegalen Nasenpulvers können uns glauben machen, dass Gove mehr ist als ein mit Rupert Murdochs Speichel und verzweifelten Eichhörnchen gefüllter Hautbeutel. Doch es gibt gute Nachrichten! Nach zehn Jahren Sparpolitik stagniert unsere Lebenserwartung. Arme Frauen werden sogar noch etwas früher von der Bürde des Britisch-Seins befreit. Bald schon werden wir alle auf die gnädige Erlösung des Todes zueilen und noch im Sarg unseren blauen Pass umklammern.

Popo, der Premierminister, ist seit zwölf Tagen spurlos verschwunden, abgesehen von einem grotesken, im Fernsehen übertragenen Ritual, bei dem sein Kabinett sich als amoralisch und irrsinnig genug erwies, seine Mantras nachzusprechen. Popo jaulte "40 neue Krankenhäuser" und "50 000 neue Pflegekräfte", versuchte irgendwie die überschäumende Stimmung des Hofbräuhauses zu beschwören, klang aber bloß wie ein in den Brunnen gefallener Schuljunge. Die 40 neuen Krankenhäuser sind in Wirklichkeit nur sechs, und das auch nur, wenn man die Bedeutung von "neu" und "Krankenhaus" so verstümmelt wie Trump indische Nachnamen. Die 50 000 neuen Pflegekräfte bestehen einerseits aus 20 000 gar nicht so neuen Pflegekräften und andererseits aus der Art Wunschdenken, die sich nur mit starken Drogen oder Kopfverletzungen aufrechterhalten lässt. Oder wenn man Michael Gove ist - wozu offenbar beides gehört.

Wird das Geld Popo schützen?

Unsere aktuelle Regierung ist durch einen endlosen Strom gut verbreiteter Lügen ins Amt gespült worden, aber Covid-19 könnte ihr Ende bedeuten. Vielleicht wird der Kontrast zwischen Fakten und Fiktionen doch zu scharf, wenn man keine Ausländer mehr beschuldigen kann. Nur darauf zu verweisen, wie gut wir 2009 (vor all den Kürzungen) auf die Schweinegrippe vorbereitet waren, wird niemanden schützen. Erzwungene Abschottung von ohnehin gelähmten internationalen Versorgungsketten wird ein allzu grelles Licht auf unsere Brexit-Realität werfen. Einem Virus Steuerkürzungen und Konjunkturpakete statt umfassender Gesundheitsfürsorge anzubieten, wird nur unterstreichen, wie absurd es ist, alles zu monetarisieren.

Während Mike Pence seine "Gedanken und Gebete" verfasst und sich darauf vorbereitet, dass der Herr die Gottlosen überall in den USA niederstreckt, besteht die britische Strategie für die Überlistung des tödlichen Virus aus eugenischer Freude angesichts der Wahnvorstellung, dass die Lebensuntüchtigen ausgemerzt werden könnten, und zugleich der Hoffnung, dass es bis zum Sommer keine Ansteckungsfälle geben könnte, weil wir jetzt schon nicht mit der üblichen winterlichen Grippewelle fertig werden. Dabei hat Covid-19 bereits das erste britische Leben gefordert.

Wie die Wirklichkeit interessiert das Virus sich nicht für rassistische Fantasien oder Wunschdenken. Inzwischen fragen wir uns, ob wir unsere Notvorräte für den Brexit aufsparen oder sie zu Notvorräten für die Selbstisolierung deklarieren sollen. Menschen werden sterben, werden unglücklich und verängstigt sein. Aber vielleicht, ganz vielleicht werden wir eine flüchtige Einsicht in die Fehler erlangen, die wir derzeit machen, dass sie nämlich immer zu Tod, Unglück und Angst führen. Millionär Popo stößt derweil Drohungen aus, die fallende Börsenkurse noch tiefer stürzen lassen und seinen Hedgefonds-Freunden mehr Geld bescheren, spielt Tennis mit Putins Oligarchen, damit seine Partei mehr Geld bekommt. Aber wird das Geld ihn schützen?

Übersetzung: Ingo Herzke

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SZ vom 03.03.2020
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