Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Sehr Herr

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Eine Leserin moniert, dass sie im Abonnentenbrief mit "sehr geehrte Frau" angesprochen worden sei. Heiße das nicht "sehr verehrte"? Hermann Unterstöger ermittelt.

Von Hermann Unterstöger

AN HÖFLICHKEIT nimmt es mit unserer Chefredaktion so leicht keiner auf. Dennoch fragte sich Leserin B., ob sie mit "Sehr geehrte Frau B." (im wöchentlichen Abonnentenbrief) korrekt angeredet worden sei. Sie habe gelernt, dass dem "sehr geehrten Herrn" die "sehr verehrte Frau" gegenüberstehen müsse. Aus der Fülle der Anstandsregeln geht relativ klar hervor, dass heutzutage auch in dieser Sache Gleichberechtigung herrscht, was in Serienbriefen zu der Floskel "Sehr geehrte/r Frau/Herr" geführt hat. Wie hohl es unter dem Boden der Höflichkeit aussehen kann, mag dieser Auszug aus einem Valentin'schen Zwiegespräch zeigen:

FRAU Also, ich schreib: "Sehr geehrter Herr"

MANN Nix geehrter Herr, geehrter weglassen . . .

FRAU Na hoaßt's ja bloß "Sehr Herr"

MANN Dös is wurscht.

FRAGT DER POLIZIST den Asylbewerber, ob er sich ausweisen könne. Die Antwort: "Muss man das jetzt schon selber machen?" Leser B. erzählt diesen reifen Witz nicht, weil er keinen neueren wüsste, sondern weil er damit eine ebenfalls sprachbedingte Sinnverzerrung illustrieren will. Es geht um folgende Stelle: "Italien erfasst etwa die Hälfte aller einreisenden Migranten. Damit verstoßen sie klar gegen die Dublin-Regeln." Was Herrn B. daran stört, ist der in der Sportberichterstattung oft zu beobachtende schleichende Übergang vom Singular in den Plural. Um die Welt (verkürzt) zu zitieren: "Nein, von einer Krise ist der FC Bayern weit entfernt. Sie spielen so betörend, dass . . ." Dabei entsteht in aller Regel kein Schaden. Obiges Beispiel jedoch könnte man Herrn B. zufolge so verstehen, als verstießen nicht nur die Italiener gegen die Dublin-Regeln, sondern auch die Migranten. Im Eifer hat er allerdings übersehen, dass vor den zwei Sätzen noch einer steht: "Griechenland registriert [. . .] nur ein Viertel der dort ankommenden Flüchtlinge." Mit "sie" sind also Griechenland und Italien gemeint, der Plural ist astrein.

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Quelle:
SZ vom 16.01.2016
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