Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:In der Süppchenküche

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Haben Verschwörungstheorien einen Theoriewert? Oder wertet man die Anhänger entsprechender Thesen allein durch diesen Begriff auf? Die Antworten darauf sind verschieden.

Von Hermann Unterstöger

WAS ERWARTET einen, der im Antiquariat das Buch "Herr von Liebig und die Stickstoff-Theoretiker" (1858) erwirbt? Der Titel könnte darauf hinweisen, dass Liebig mit besagten Theoretikern in regem und fruchtbarem Verkehr stand, er könnte aber auch andeuten, dass es solche waren, bei deren Erwähnung man heute gern mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft zeichnet. Auf diesen Unterschied im Wortverständnis ist unser Leser W. aus, wenn er den viel zitierten Verschwörungstheoretiker zur Diskussion stellt. Seine, mit Verlaub, Theorie: Indem man sie als Theoretiker bezeichne, würden Faschisten usw. "in geradezu obszöner Weise aufgewertet". (Dass der Fall eine gewisse Nähe zu dem der Russlandversteher hat, sei auf Anregung unserer Leserin M., die dagegen ähnliche Bedenken vorbringt, hier eingefügt.)

Solch eine Aufwertung geschähe in der Tat, wenn man unterstellte, bei den Verschwörungstheorien handelte es sich um Theorien im wissenschaftstheoretischen Sinn des Wortes, also um geistige Konstruktionen, die der Bündelung, Einhegung und Erklärung komplexer Phänomene dienen. Darum handelt es sich bei dem, was unter Verschwörungstheorien landläufig gemeint ist, indes keineswegs. Vielmehr unterstellt man solchen "Theoretikern", dass sie im pseudowissenschaftlichen Topf ein ungutes politisches Süppchen kochen - ein Verdacht, den die Realität oft und oft bestätigt.

Um Herrn W.s Angst vor möglicher obszöner Aufwertung zu mildern, sei auf einen Text des Amerikanisten Michael Butter (Universität Tübingen) hingewiesen, der vor gut zwei Jahren in der Zeit erschien. Zum einen haben, wie Butter unter anderem schreibt, Verschwörungstheorien mit Alltags- oder wissenschaftlichen Theorien auf der formalen Ebene viel gemeinsam, und wenn die dort generierten Erkenntnisse auch in der Regel falsch seien, so ändere das nichts an ihrem Theoriestatus. Überdies fühlten sich Menschen, die den Verschwörungstheoretikern zugerechnet werden, "eher stigmatisiert und abgewertet" als auf den wissenschaftliche Olymp versetzt. "Man tut also", folgert er, "Verschwörungstheoretiker*innen keinen Gefallen, wenn man den Begriff vermeidet."

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