Süddeutsche Zeitung

Rassismus-Debatte:Geht's auch ein bisschen weniger heftig?

Lesezeit: 5 min

SZ-Leserinnen und Leser nehmen Stellung zu den Äußerungen von Elke Heidenreich zu Gast bei Markus Lanz. Eruiert wird das begründete Interesse an der Herkunft des Anderen und möglichem Rassismus durch "Othering".

Zu "Auf Irrwegen" vom 15. Oktober und zu "Sarah-Lee Heinrich" vom 13. Oktober:

Entschuldigung erwünscht

Der Kommentar von Constanze von Bullion analysiert sehr präzise die Fallstricke, in denen sich eine scharfsinnige Literaturkritikerin wie Elke Heidenreich beim Thema Rassismus verheddert hat. Hier muss ich als alter, weißer Mann feststellen, dass der in den 70er- und 80er-Jahren progressive Teil der Ü-60-Generation, zu der Frau Heidenreich sicherlich zu zählen ist, oft nicht mehr willens ist, die seither stattgefundene gesellschaftliche Entwicklung zur offeneren Gesellschaft mitzutragen und die eigenen Urteile infrage zu stellen.

Ich kann die Kritik an Sarah-Lee Heinrich nicht nachvollziehen. Sie wegen ihrer Tweets im Alter von 14 Jahren, von denen sie sich glaubwürdig distanziert hat, heute an den Pranger zu stellen, kann nur in bösartiger Absicht geschehen. In meinem jugendlichen Alter hatte ich nur das Glück, dass es kein Internet gab, das auf ewig meine textuellen Ergüsse der Web-Community verfügbar gemacht hätte. Diese Gnade der frühen Geburt existiert für die Leute nicht, die mit Social Media herangewachsen sind, sodass jeder ihrer Texte einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich ist, egal in welcher Phase der persönlichen Entwicklung der Text entstanden ist. Also haltet den Ball flach, bevor ihr ein schnelles Urteil fällt, und erinnert euch an eure eigene Jugend mit euren eigenen Verwirrungen!

Aber auch der Satz von der "eklig weißen Mehrheitsgesellschaft" löst bei mir keinen Abwehrreflex aus, dafür müsste sie sich nicht entschuldigen. Wenn einerseits eine Hysterisierung in der öffentlichen Debatte bei Minderheitsthemen beklagt wird, andererseits aber die provokante Gefühlsäußerung einer Person of Color zur weißen Mehrheitsgesellschaft mit einem "No go" von eben dieser Mehrheitsgesellschaft belegt wird, wären wir doch gut beraten, etwas mehr Gelassenheit zu zeigen. Dies als "Spaltung der Gesellschaft" hochzustilisieren, wie es Kai Wegner und Markus Lanz in der Sendung gemacht haben, entspricht nur dem unreflektierten Bedürfnis nach oberflächlicher Harmonie. Tatsächlich ist ein solcher Konflikt ein Ausdruck des Zusammenwachsens, "denn gespalten sein kann man nur, wenn man zuvor irgendeine Einheit darstellte" (Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadoxon, S. 81).

Es ist auch klar festzuhalten, dass unsere deutsche Gesellschaft rassistische Strukturen aufweist - ohne Wenn und Aber. Das heißt, weiße Deutsche sind nicht per se Rassisten, können aber rassistisch handeln, auch ohne Absicht. Rassistische Diskriminierung enthält Kategorisierung, Abwertung und Ausgrenzung. Nach dieser Definition hat Frau Heidenreich in der Talkshow Frau Heinrich rassistisch diskriminiert, eine Entschuldigung wäre angebracht.

Martin Rümelin, Berlin

Im Unterhaltungskontext

Ich möchte Frau von Bullion erheblich widersprechen: Mir ist Hautfarbe und Geschlecht einer/eines demokratisch gewählten Repräsentantin/Repräsentanten völlig egal, nicht aber die offensichtliche, im Video zu sehende Unfähigkeit, sich auszudrücken. Insoweit stimme ich Frau Heidenreich zu, dass weder eine Sprache noch ein Inhalt in diesem Videoausschnitt von Frau Heinrich zu erkennen war. Die Frage, aus welchem Land Frau/Mann kommt, halte ich in einem Unterhaltungskontext nicht für frevelhaft. Bei Behördenbesuchen allerdings völlig unnötig, da in der Regel ein Ausweis vorliegt. In der Schule gibt's schon mal die Frage: Habt ihr Ausländer in der Klasse? Antwort: Nein, nur Kinder.

Ulrich Schmitz, Köln

Interesse an Mitmenschen

Obwohl ich nach der Lektüre des Artikels entdeckt habe, dass inzwischen wilde Aufregung über die "Causa" Heidenreich/Heinrich im Internet tobt, möchte ich ein paar unaufgeregte Worte dazu sagen: Es geht um den Vorwurf von Vorurteilen, Diskriminierung und Rassismus.

Als Professorin an der FH München habe ich jahrelang Vorlesungen gehalten zum Thema Vorurteile. Vieles, was ich in den 80er- und 90er-Jahren größtenteils der Fachliteratur entnommen hatte, würde ich heute nicht mehr für gültig halten. Zu dieser Auffassung komme ich auch durch eigene Erfahrung, besteht doch mein Bekanntenkreis fast zur Hälfte aus Menschen anderer Kulturen und anderer Hautfarben.

Mit Frau Heidenreich bin ich vollkommen einig in der Auffassung, dass die Frage nach der ethnischen und geografischen Herkunft eines Menschen zuallererst einmal ein Interesse des Fragenden signalisiert. Es ist ein Unterschied, ob zum Beispiel eine dunkelhäutige Person oder deren Eltern aus Afrika, den USA, dem karibischen Raum oder Brasilien kommen oder vielleicht in Deutschland aufgewachsen sind. Mit der Kenntnis über die Herkunft eines Menschen kann ich mich auf ihn einstellen und besser verstehen. Leider ist es in letzter Zeit Mode geworden, und wird auch von Betroffenen so interpretiert, diese Frage in den Bereich des Vorurteils, ja der Diskriminierung zu verweisen.

Die Autorin wirft Frau Heidenreich vor, sie hätte "Stereotype bedient, die das Niveau des Heinrich-Tweets noch unterbieten". Wer sich noch mal den Wortlaut dieses Tweets vor Augen hält, nämlich "eklig-weiße Mehrheitsgesellschaft", den schaudert es. Da kann auch die Jugend dieser Schreiberin nichts mehr verharmlosen, und auch eine Entschuldigung im Nachhinein macht nichts an diesem unsäglichen Ausspruch wett. So etwas hat Langzeitwirkung und ist in seiner Verächtlichkeit keinesfalls gleichzusetzen mit einer - möglicherweise berechtigten - Kritik von Frau Heidenreich am Sprachvermögen von Frau Heinrich. Vom Ausdruck her und aus dem Munde einer bekannten Schriftstellerin und Literaturkritikerin vielleicht etwas überheblich klingend, aber als Meinungsäußerung nicht unzulässig. Welche Schmähungen hätte wohl der selige Reich-Ranicki sich anhören müssen bei seinen vehementen Verurteilungen!

Prof. Ursula Dickerhoff, Bad Endorf

Krallen wieder einfahren

Fast zwanzig Jahre ist es her, als ich Elke Heidenreich auf der Buchmesse überfiel: Ob sie nicht mit uns zusammen, damals war ich Verlagsleiterin der Brigitte, eine Buch-Edition herausgeben wolle? Wir hatten unsere liebe Not, Elke Heidenreich davon abzubringen, nur Bücher auszuwählen, die von Trauer und Ausgrenzung handelten, also von Opfern von "Othering", dem Ausgegrenzt-Sein aus dem Herzen unserer Gesellschaft. Genau das aber mache sie heute, wirft ihr die Süddeutsche Zeitung vor.

Fast zwanzig Jahre kenne ich Heidenreich als Kolumnistin, als Autorin und Kritikerin. Sie war immer hart im Austeilen. Aber Elke Heidenreich als im "bundesrepublikanischen Gestern" verhaftet darzustellen, fremd in unserer Gesellschaft und voller Vorurteile, wird ihr nicht gerecht. Können wir uns bitte alle wieder streiten, ohne gleich zu stigmatisieren und in Schubladen zu packen? Ja, das sollte auch Elke Heidenreich beherzigen, wenn sie im Fernsehen gegen eine junge Politikerin austeilt.

Ich fand die Reaktion der Schriftstellerin Jagoda Marinić interessant, selbst Tochter jugoslawischer Gastarbeiter aus Dalmatien, die uns darauf aufmerksam macht: Es gibt auch eine Menge Menschen mit Migrationshintergrund, die zu ihrer Familien- oder Flucht-Geschichte befragt werden wollen. Weil sie etwas zu erzählen haben und weil sie auch mit ihren Geschichten zur Fortentwicklung unserer Gesellschaft beitragen. Das gilt für den Taxi-Fahrer genauso wie für die Wissenschaftlerin. "Minderheiten sind vielfältig im Umgang mit Herkunft", so Marinić. Bitte Krallen einfahren und einmal tief Luft holen in dieser Debatte.

Julia Jäkel, Hamburg

In guter Gesellschaft

Man ist nicht erstaunt. Natürlich erhebt auch die SZ ihre Stimme im Chor der Ablehnung von Elke Heidenreichs Auftritt bei Markus Lanz. Ja, Heidenreichs Schwarz-Weiß-Malerei zum identitätspolitischen Thema ist voll daneben, ebenso wie die Jugendsünde der Sprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich.

Schön wäre es gewesen, wenn die SZ auch die anderen Themen Heidenreichs in dieser Talkshow angeschaut und kommentiert hätte. Da geht es um die Verhunzung der Sprache durch Gendersternchen (da ist Heidenreich in guter Gesellschaft mit der SZ). Um den "ruchlosen" Markus Söder (in guter Gesellschaft mit der Jungen Union). Es geht um Laschet (in guter Gesellschaft mit dem Wähler). Meiner Einschätzung nach verhebt sich Constanze von Bullion mit dem Begriff "Othering". Das Wort ist weder fein noch Englisch, sondern einfach nur gruselig.

Klaus Junkers, Seehausen

Ein klärendes Gespräch

Auch ich, 78 Jahre, war schockiert über die Worte von Elke Heidenreich über die junge Politikerin Sarah-Lee Heinrich. Sie war ja nicht vor Ort. Auch wir Nachkriegskinder haben noch lange "Skiheil" gerufen. Elke und Sarah haben in eine Wunde gestochen, die sich in Deutschland nicht schließen darf. Ich persönlich würde mich freuen, wenn Markus Lanz diese beiden Frauen noch einmal zu einem klärenden Gespräch in seine Talkrunde einlädt. Die Zuschauer werden es ihm danken.

Elsbeth Schwanewedel, Berlin

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Quelle:
SZ vom 28.10.2021
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