Süddeutsche Zeitung

Pazifismus:"Fürchtet euch nicht"

Lesezeit: 4 min

Sind friedensbewegte Utopisten widerlegt von der Realpolitik? Eine SZ-Kolumne, die Häme gegen Pazifisten ausmacht, hat viele Reaktionen hervorgerufen. Gedanken zur Zukunft der Blauhelm-Soldaten, Atomgefahren und einer Weltinnenpolitik.

Zu " Bruder Esel" vom 24./25./26./27. Dezember:

Immer an Weihnachten abrüsten

Es tut gut, bei diesem Thema an die Weihnachtsbotschaft zu erinnern. Ich als Pazifist hätte mir gewünscht, dass Autor Prantl einen Schritt weitergeht und klarstellt, dass Rüstung und militärische Sicherheitspolitik mit dieser Botschaft unvereinbar sind. Die Botschaft beginnt ja mit dem Ausruf "Fürchtet euch nicht". Dieser Ausruf bewegt mich, an die 1950er-Jahre zurückzudenken, die ich als Schüler erlebte und die von der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und der Gründung der Bundeswehr geprägt waren.

Die Ursache dafür war die Angst, dass die Sowjetunion in ihrem Expansionsdrang Westdeutschland angreifen würde. Ich hoffte damals inständig, dass Deutschland auf die Wiederbewaffnung verzichten und damit der ganzen Welt ein Beispiel geben und so viele Länder motivieren würde, ohne Militär zu leben. Helmut Wolfgang Kahn schrieb dann 1969 das Buch "Die Russen kommen nicht". Aber 1955 fiel leider die Entscheidung, das "Amt Blank", die spätere Bundeswehr, zu gründen. Dies war die Ursache für die Sowjetunion, 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei einzumarschieren.

Die Russen hatten den deutschen Überfall auf Polen und den Angriff auf die Sowjetunion 1941 im Sinn, und keiner sagte ihnen: "Fürchtet euch nicht". Aber: Angst erzwingt Gegenangst. Da bedurfte es keiner Drohgebärden. Allein die massive Aufrüstung schürt die Angst auf allen Seiten. Besonders die Stationierung von Massenvernichtungsmitteln und nun die Produktion von Drohnen schüren diese Ängste. Ausgerechnet in der Weihnachtszeit verlangte US-Präsident Trump, Deutschland solle aufrüsten, während es zum Weihnachtsfrieden besser gepasst hätte, abzurüsten, um der anderen Seite ein "Fürchtet euch nicht" nahezulegen.

Mein Wunschtraum wäre, dass alle Staaten jedes Jahr zur Weihnachtszeit abrüsten und so, statt Angst und Schrecken zu verbreiten, dem Weltfrieden allmählich nahekommen, sodass Angst durch Zuversicht und Misstrauen durch Vertrauen ersetzt werden. Das erfordert natürlich gewaltige Anstrengungen, vor allem in der letzten Etappe, in der die Reststreitkräfte allmählich in Polizeikräfte umgewandelt werden und das gesamte Wirtschaftssystem eine Konversion erfährt. Wie sagte Émile Zola? "Durch das Buch, nicht durch das Schwert, wird die Menschheit die Lüge und Ungerechtigkeit besiegen und den endgültigen Bruderfrieden unter den Völkern erobern."

Hier höre ich die Gegenfrage der Lobbyisten der Rüstungsfirmen: Wie sollen wir denn den aggressiven Staaten Einhalt gebieten, die ihre Nachbarn überfallen wollen, wie es 1956 den Ungarn und 1968 den Tschechoslowaken erging? Meine Gegen-Gegenfrage lautet: Wie sollen die aggressiven Staaten andere Staaten überfallen, wenn sie keine Streitkräfte mehr haben? Kann es gerecht sein, wenn jeder Staat Streitkräfte unterhält, sodass die kleinen Staaten chancenlos gegen die großen sind?

Der Verweis auf Militärbündnisse (wie die Nato) hilft nicht weiter; denn wenn das große Bündnis das kleine angreift, droht die Gefahr des Dritten Weltkriegs. Abhilfe kann nur eine weltumspannende Organisation, also heute die UN, schaffen. Instrumente wie der Internationale Gerichtshof können übrigens, wenn man sie nutzt, besser abschreckend wirken als Dutzende von Armeen. Terror-Regimes mit Expansionsgelüsten müssen sich heute erst noch gegen das eigene Volk durchsetzen.

Die Konzentration der Streitkräfte bei einer weltumfassenden Organisation würde es meines Erachtens auch leichter machen, Massenvernichtungsmittel wie Atombomben völkerrechtlich eindeutig zu verbieten, während der Einsatz von Atomwaffen durch das neue Abkommen, das am 22. Januar in Kraft tritt und bisher nur von 50 Staaten ratifiziert wurde, völkerrechtlich noch nicht generell untersagt ist, wenn er der Selbstverteidigung dient. Also müsste dieses Recht erheblich eingeschränkt werden, um Atomkriege unmöglich zu machen. Hätten nur noch die Vereinten Nationen Streitkräfte, wäre das Verbot der Atombomben nur noch Formsache.

Prof. Dr. Ulrich Daum, München

Friedenshoffnung nie aufgeben

Wie viel Esel, wie viel Narr muss man sein, um zu glauben, dass es wahren Frieden unter den Völkern gibt? Nur Menschen, die sich ein Stück Hoffnung in kindlicher Art und Weise bewahrt haben, werden das sein. Da bin ich doch gerne eine Eselin und eine Närrin und hoffe, dass es noch mehr Menschen von unserer Sorte gibt.

Christine Engel, Gilching

Eigene Positionen hinterfragen

Wenn man schon über Friedenspolitik in unserer Zeit nachdenkt, dann sollte man auch ihre Problematik mitdenken. Pazifisten sind keineswegs tragische Gestalten. Ich wüsste jedenfalls keinen ernst zu nehmenden Zeitgenossen, der angesichts von Aufrüstung und kriegerischen Entwicklungen in Begeisterung geriete. Ich sehe auch keine wachsende Häme über Friedenspolitik im Allgemeinen. Wohl aber gibt es eine gefährliche Entwicklung hin zu einem Pazifismus,dem jedes Sicherheitsdenken in den Kategorien der Vernunft abhanden gekommen ist. Willy Brandt ist mit seiner Ostpolitik sehr behutsam, aber entschlossen vorgegangen. Er wusste um die Gefährdungen zwischen West und Ost und ihre globalen Verwerfungen. Er war kein Träumer. Das eben unterscheidet ihn auch von manchen seiner Bewunderer.

Der Begriff "Stechschritt-Pazifismus" meint nichts anderes als das unselige Bedürfnis, das eigene Friedensverständnis als allein selig machende Meinung vor sich her zu tragen. Dieses Denken ignoriert nicht nur die von solcher Einseitigkeit ausgehende Gefährdung allgemeiner Sicherheit. Es beansprucht auch ein moralisches Podest, das die Integrität jener in Zweifel zieht, die sich verantwortungsvoll um Frieden und Ausgleich bemühen, ohne dabei die Augen vor der Realität zu schließen. Doch, man kann sicherlich auch mit "radikalem Pazifismus" regieren, ohne sogleich den "ewigen Frieden" herbeizuzaubern. Gegenseitiges Vertrauen und Respekt vor den Interessen und Bedürfnissen der jeweils anderen Seite wären da schon hilfreich.

Wolf Scheller, Köln

Mehr Weltinnenpolitik betreiben

Der Widersinn, dass die Anhäufung immer effektiverer Zerstörungspotenziale unsere Sicherheit gewährleistet, kann nicht scharf genug angeprangert werden. Auf die Frage, warum Deutschland dem UN-Abkommen zur Ächtung von Atomwaffen nicht beitrete, verwies Joschka Fischer auf Bündnistreue und darauf, dass dann in Deutschland keine US-amerikanischen Atomwaffen mehr gelagert werden dürften, was unsere Sicherheit vermindere. Wenn jemand guten Glaubens so argumentiert, kann ich mir dies nur mit der Befangenheit des Denkens in Kategorien von Macht, Zerstörungspotenzialen, Feindbildern und Nullsummenspielen erklären.

Zurecht verweist Herr Prantl darauf, dass erst die Sicherheit des Gegners unsere eigene Sicherheit erhöht (Willy Brandt). 1959 plädierte John H. Herz für Universalismus als "Gefühl für die Menschheit als Ganzes, das sich derer bemächtigt, die sich der absoluten Gefahr, die die Atomwaffe für das Menschengeschlecht bedeutet, bewusst sind" (Weltpolitik im Atomzeitalter). Friedenslogik ist Sicherheitslogik!

Mit Rolf Mützenich halte ich das Nato-Zwei-Prozent-Ziel für einen "Tanz ums goldene Kalb". Es geht nicht um Verzicht auf militärische Machtmittel, wohl aber um deren Beschränkung auf polizeiliche Aufgaben (Weltinnenpolitik). UN-Blauhelmmissionen und die 2005 beschlossene Schutzverantwortung sind große Schritte in diese Richtung.

Prof. Richard Motsch, Bonn

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5181829
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.01.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.