Süddeutsche Zeitung

Nato:Starkes Schutzbündnis oder erpressbare Gemeinschaft?

Lesezeit: 6 min

Das Veto des türkischen Präsidenten gegen die Aufnahme von Finnland und Schweden in die Nato ruft bei vielen SZ-Lesern Empörung hervor. Manch einer fühlt sich an Putin erinnert.

"Profil: Henry Kissinger" vom 27. Mai, "Erdoğan fordert Respekt" vom 19. Mai, "Bissl Erpressung geht immer" vom 18. Mai, "Im Schwarm" vom 17. Mai und weitere Artikel:

Schutz der Grenzen

Das Veto des türkischen Staatspräsidenten gegen die Erweiterung der Nato um Finnland und Schweden zeigt, dass die Nato alles andere als eine Wertegemeinschaft, und in diesem Sinne "wertlos" ist. Sie ist ein reines Zweckbündnis, dessen Ursprung zwar eine Reaktion auf den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg war, sich aber schnell zu einem Bündnis gegen die Sowjetunion und die ihrem Machtbereich zugehörigen Staaten entwickelt hat. Nun haben sich zwar die dem sowjetischen Machtbereich entronnenen osteuropäischen Staaten unter den Schutzschirm der Nato begeben, eine Wertegemeinschaft ist die Nato dadurch aber nicht geworden. Sie war es auch vorher nicht so richtig, wenn man auf die Mitgliedschaft der faschistischen Diktatur in Portugal zurückblickt. Heute findet man unter den Mitgliedern gestandene Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und auch die polnische PiS-Regierung, auch Tschechien und die Slowakei haben Ausflüge Richtung Autokratie unternommen (und sind hoffentlich davon abgekommen).

Was die Nato-Mitglieder eint, ist die Absicht, sich gemeinsam gegen Angriffe durch Drittstaaten zu verteidigen. Ein durchaus legitimes Unterfangen. Es wird aber nicht die Demokratie durch die Nato verteidigt, auch wenn manche Politiker das verkünden, sondern es werden Staatsgrenzen geschützt. Diese Gemengelage fällt der Nato nun auf die Füße. Denn ein Autokrat wie Erdoğan kann nicht daran interessiert sein, dass sich die Zahl der demokratischen Staaten in der Nato vergrößert und er dadurch verstärkt mit Werten konfrontiert wird, die er vehement ablehnt und in seiner politischen Praxis konterkariert. Und da die Türkei sichtlich weniger Probleme mit dem russischen Krieg in der Ukraine zu haben scheint als die Staaten, die wie Polen und Ungarn direkte Erfahrungen mit einer militärischen Besetzung haben und darum trotz autokratischer Politik die Nato-Erweiterung unterstützen, lehnt er sich zurück und zückt die Veto-Karte. Im Strafrecht nennt man das Erpressung.

Thomas Armbrüster, Erding

Erdoğan ist unerwünscht

Will denn niemand aus der Geschichte lernen, dass man bei Diktatoren wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan mit Liebdienerei und Geldgeschenken nur neue Begehrlichkeiten und Erpressungen weckt? Haben wir vergessen, dass die Kurden, die Anfang der 1920er-Jahre einen eigenen demokratischen, von Frankreich und England aufgelösten Staat hatten, fast allein den IS für uns besiegt haben?

So wie wir Putin nicht wollen, wollen wir auch den Diktator Erdoğan nicht in der EU und in der Nato. Wir sollten besser die Einstimmigkeit in EU und Nato abschaffen und in unsere Verteidigung mehr investieren.

Dr. Joachim Schimmelpfennig, Frechen

Genauer hingucken

Recep Tayyip Erdoğan gehört ein Riegel vorgeschoben. Es geht nicht an, dass die Nato dem einen Despoten unbillige Zugeständnisse macht, um dem anderen "eins auszuwischen". Nüchtern betrachtet nämlich ist der Unterschied zwischen Putin und Erdoğan nur quantitativ, nicht qualitativ. Auch Erdoğan lässt Oppositionelle mit fadenscheinigen Gerichtsurteilen einlochen. Auch Erdoğan schaltet freien, unabhängigen Journalismus aus. Auch Erdoğan hängt einem kruden, faschistoiden Welt- und Geschichtsbild an. Auch Erdoğan akzeptiert das Recht auf Selbstbestimmung anderer Nationen nicht. Auch Erdoğan missachtet immer wieder die territoriale Integrität der Nachbarstaaten. Klar, so unerträglich wie Putin ist er noch nicht, doch hat auch Putin klein angefangen.

Worauf wollen wir warten? Darauf, dass die Türkei Zypern und/oder die Dodekanes annektiert? Darauf, dass das Regime in Ankara die Armenier und/oder Kurden endgültig auslöscht? Darauf, dass Erdoğan Atomwaffen bauen lässt, um seinem Größenwahn Nachdruck zu verleihen? Die "Zeitenwende" kann doch nicht bedeuten, Putin für sein Tun zu verdammen und stattdessen Altkanzler Gerhard Schröder zu hängen, auszuweiden und zu vierteilen. "Zeitenwende" sollte heißen, künftig genauer hinzugucken, mit wem man welchen "Deal" macht, und zu einer verantwortungsvollen Politik zu finden, ganz gleich ob in Moskau, Peking oder Ankara.

Denn das eigentliche Problem ist doch: Die Abhängigkeit von Putins Gas und Öl ist der Himmel auf Erden im Vergleich zur Abhängigkeit von Erdoğan, in die Angela Merkel Deutschland und damit ganz Europa gebracht hat.

Hermann Thomsen, Kiel

Falle "made in Washington"

"Die Nato wird größer und stärker denn je. Sie verdoppelt mit dem Beitritt Finnlands ihre gemeinsame Landgrenze zu Russland (...). Ein Albtraum für Russlands Strategen", heißt es in der SZ. Zu ergänzen wäre: ... Und die russische Bevölkerung, die bereits zweimal aus dem Westen überfallen und zerstört worden ist. Bedauerlich, wenn nicht skandalös, ist, dass USA und Nato sämtliche Friedensvorschläge der russischen Regierungen ignorierten. Seit 2014 wird die Ukraine von USA und Nato hochgerüstet, sodass sie zwar nicht in der Nato ist, aber die Nato in der Ukraine.

Weshalb ist es so schwer, sich in die schwierige Lage der russischen Seite zu versetzen? Wie würden die USA reagieren, wenn China in Kanada große Mengen Waffen bunkern, Militärstützpunkte aufbauen und Manöver durchführen würde?

USA und Nato agieren weltweit und haben schon heute eine gigantische Übermacht gegenüber Russland. Der nächste von den USA ausgemachte Gegner heißt China. Wenn Finnland und Schweden in diesen aggressiven Club eintreten, der sehr geschickt mit Kreide im Munde spricht, sind sie in eine smarte Falle "made in Washington" getappt. Und wir beziehungsweise unsere Politiker und Medien leider auch.

Dr. Edgar Göll, Langgöns

"Die Geister, die ich rief"

Der Angriffskrieg in der Ukraine veranlasste einige Länder dazu, ihre Neutralität zu verlassen und sich für eine Mitgliedschaft in der Nato auszusprechen. Aus meiner Sicht ist es gut, dass Bündnisse wie Nato oder EU existieren. Bestimmte Staaten wollen dazu gehören. Sie möchten in diese Gemeinschaft investieren, sie möchten Sicherheit, sie wollen mitentscheiden oder Gelder aus bestimmten Fördertöpfen erhalten. So profitieren zum Beispiel ehemalige Ostblockstaaten von hohen Zuschüssen der EU. Als Dankeschön werden dann Rechtsstaatlichkeit oder Meinungsfreiheit mit Füßen getreten. Einige Staatslenker spielen sich als Blockierer auf, verwehren Schweden und Finnland den Beitritt, weil dort angeblich Terroristen Unterschlupf finden. Dadurch soll von eigenen, innenpolitischen Problemen und Menschenrechtsverletzungen abgelenkt und der Bevölkerung gezeigt werden, wie wichtig man ist. "Die Geister, die ich rief...", fällt mir dazu nur ein. Der Einzige, der sich darüber freuen wird, sitzt an einem riesigen Tisch im Kreml. Ich hoffe, dass sich die Bündnispartner noch einigen werden.

Achim Bothmann, Hannover

Gemeinschaft in Frage gestellt

Es ist nicht das erste Mal, dass ein einzelnes Nato-Mitglied mit seinem Veto eine Entscheidung verhindert. Hier wird die Umkehr des demokratischen Prinzips praktiziert. Angesichts der jüngsten Turbulenzen im Weltgeschehen wird dieses Vetorecht, wie es Victor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan wahrnehmen, ja erpresserisch nutzen, um wirtschaftliche Vorteile herauszuschlagen, einfach missbraucht.

Sowohl bei der Nato, aber auch bei der Uno ist es an der Zeit, sich neu aufzustellen. Notfalls mit einem allgemeinen Austritt und einer Neuaufstellung der Mitglieder, die das Mehrheitsrecht, egal nach welchen Quoten,als verbindlich erklären. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied und wenn ein Veto es verhindern kann, dass alle anderen eine Entscheidung zum Schutz oder zum Erhalt menschlich-sozialer Lebensformen treffen können, dann ist die Gemeinschaft in Frage gestellt.

Klaus Lückerath, Meerbusch

So viele Irrtümer

Kissinger hat recht. Er ist ein Professioneller der Außenpolitik und eine Autorität. Es war ein Irrtum zu glauben, Russland nähme es hin, wenn sich die Nato immer weiter an seine Grenze schiebt. Es war ein Irrtum zu glauben, es sei überflüssig gewesen, auf das Verhandlungsangebot Russlands vom Dezember einzugehen. Es war ein Irrtum zu glauben, die Russen würden nicht ernst machen. Es ist ein Irrtum zu glauben, mit Waffenlieferungen die Russen stoppen zu können. Die Irrtümer häufen sich, weil sie von Amateuren der Außenpolitik begangen werden. Wie viele Irrtümer können wir uns noch leisten?

Dr. Wolfgang Plasa, Berlin

Staatsterrorismus in der Nato

Es wirkt schon wie ein Treppenwitz, dass gerade der türkische Ministerpräsident Erdoğan gegen den Beitritt von Finnland und Schweden ist, ja ihn zu verhindern sucht. Leider zeigt sich, dass mit Einstimmigkeit in Gruppen - das trifft ja auch auf die EU zu - nichts zu gewinnen ist. Wichtige Entscheidungen können von Einzelnen aufgrund ihrer eigenen egoistischen Sichtweise verhindert werden. Mit Demokratie hat dies nicht mehr viel zu tun. Die demokratisch legitimierte Mehrheit sollte den Takt vorgeben.

Dass Erdoğan seine Ablehnung damit begründet, dass die beiden Kandidaten die Kurden unterstützen würden, die Erdoğan ohne rechtliche Grundlage auf fremdem Staatsgebiet (Irak, Syrien unter anderem) willkürlich bekämpft, spottet jeder Beschreibung. Ein Volk wie die Kurden kann man nicht mit Terroristen gleichsetzen, gerade wenn man sieht, wie Erdoğan mit Andersdenkenden in seinem Land verfährt. Das ist Staatsterrorismus. Ich wünschte mir, die Erdoğan-Türkei würde aus der Nato austreten. Leider kann man sie nicht rauswerfen, da die Türkei selbst entscheiden kann, was sie tut. Der Sache ist das nicht dienlich.

Sven Jösting, Hamburg

Verhandeln ist wichtig

Diese offen ausgesprochene Abneigung gegen das Verhandeln überrascht immer wieder. Bei Interessenskonflikten ist es gut, zu verhandeln - besser, als sich mit Gewalt durchzusetzen oder einen Krieg anzuzetteln. Jean Asselborn ist Politiker, eine seiner Hauptaufgaben ist es zu verhandeln, um eigene Interessen und Forderungen durchzusetzen. Dabei ist es notwendig, Maximalforderungen zu stellen. Wenn dagegen andere dies tun, kann man versuchen, sie zu diskreditieren (um vor dem eigenen Publikum besser dazustehen), indem man ihnen vorhält, man sei "doch nicht auf einem Basar", und ihre Forderungen als "Erpressung" bezeichnen. Doch was soll schlecht daran sein?

Auch im Alltag spricht nichts dagegen, die eigene Ware möglichst teuer zu verkaufen oder zu einem möglichst günstigen Preis zu erhalten. Manche Menschen verhandeln auch in Deutschland scheinbar feste Preise - mit Erfolg. Wichtig ist nur, dass am Ende beide Seiten gemeinsam den bestmöglichen Kompromiss finden. Und das gelingt am ehesten, wenn man freundlich und respektvoll miteinander umgeht.

Johannes Herwig-Lempp, Halle

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Quelle:
SZ vom 31.05.2022
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