Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Berliner Stanzen

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Ferner geht es heute um eine richtig heiße Stilfigur und um die Frage, wann "brauchen" sinnvoll zu gebrauchen ist.

Von Hermann Unterstöger

WENN LESER behaupten, sie hätten etwas schon tausendmal vergeblich moniert, murmeln wir in der Redaktion oft: "Na, na, na" und werkeln weiter. Unser Leser W. verpackte seinen Vorwurf, er habe zu wiederholten Malen auf den Unterschied zwischen gebrauchen und brauchen hingewiesen, in eine Gratulation zu dem endlich mal korrekten Satz "Der Feldhamster könnte dringend Hilfe brauchen". Eigentlich ist die Sache einfach: Zum Einschlagen eines Nagels brauche (benötige) ich einen Hammer, und wenn ich ihn habe, gebrauche (verwende) ich ihn dazu. W.s Behauptung, die zwei Verben würden ständig verwechselt, ist richtig. Sätze wie die, dass der FC Bayern oder die CSU bestimmte Debatten gerade jetzt gar nicht "gebrauchen" könnten, finden sich im Archiv ohne Zahl, und darum brauchen wir Leser wie Herrn W. leider immer wieder.

GEBRAUCHT wird auch Leser Dr. L., obwohl seine Mahnungen ebenfalls oft und oft ins Leere laufen. Er ist zuverlässig zur Stelle, wenn von "heißen Temperaturen" die Rede war, und führt dagegen an, dass es heißes Wasser und hohe Temperaturen gebe, aber keine heißen Temperaturen. Zur Herrn L.s Beruhigung: Man kann die heißen Temperaturen auch als Stilfigur sehen. Dann stehen sie in einer Reihe mit der baldigen Erwartung einer Antwort, der billigen Gaststätte oder dem plastischen Chirurgen und nennen sich En- respektive Hypallage.

KAI WEGNER, dem Berliner Wahlsieger, wurde attestiert, dass er manchmal "in Stanzen" spreche. Leser Sch. war überrascht, dass es noch Politiker gibt, die sich dieser "etwas aus der Mode gekommenen gereimten Strophenform" bedienen. Die aus Italien stammende Stanze besteht aus acht weiblichen Endsilblern mit dem Reimschema ab ab ab cc. Ihre größten Meister vor Wegner waren Boccaccio, Boiardo, Ariosto und Tasso, auch Goethe hat sich auf seine Art der Stanze bedient, etwa in der Zueignung (Faust I): "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten", und so weiter. Verächter der Klassik nennen derlei gern "gestanztes Zeug", und darauf scheint es wohl auch bei Wegner hin und wieder hinauszulaufen.

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