Süddeutsche Zeitung

Fall Genditzki:Ein allzu später Sieg der Gerechtigkeit

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Ein Mann wird trotz Zweifeln wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt - und kommt nach 13 Jahren frei. SZ-Leser üben Justizkritik.

"Man darf nie aufhören zu kämpfen" vom 13./14./15. August und "Im Zweifel gegen den Angeklagten" vom 18. August:

Justiz hat versagt

Endlich die Einsicht bei Gericht, dass der Hausmeister Genditzki kein Mörder ist. Es wäre jetzt dringend nötig, dass die Hauptverhandlung so bald wie möglich anberaumt wird, damit Manfred Genditzki auch formal vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wird. Oder will sich das Landgericht wieder ein Jahr Zeit lassen?

Außerdem wäre es nötig, dass die Gutachter nochmals ihre Erkenntnisse in der Hauptverhandlung vortragen, denn bisher hat das Landgericht den Beteiligten einen Maulkorb verpasst. Ob das Justizministerium dann wohl den verhängnisvollen Verlauf der Angelegenheit aufarbeiten wird? Selbst die Schöffen scheinen versagt zu haben.

Maria Sturm, Zorneding

Ein Wunder und viele Fragen

Nach dreizehneinhalb Jahren wird ein Mann aus lebenslanger Haft entlassen, weil "kein dringender Tatverdacht besteht". Das Landgericht München II hat Manfred Genditzki zweimal aufgrund unbewiesener Vermutungen als Mörder verurteilt, der Bundesgerichtshof hat einen mehr als 100 Seiten umfassenden Revisionsantrag zu diesen Urteilen pauschal verworfen, mit einer Begründung von acht Zeilen Länge. Wie kann so etwas geschehen? Wie können so viele Richterinnen und Richter sich so hartnäckig über alle Zweifel hinwegsetzen, die in diesem Fall nicht nur von der Verteidigung, sondern auch in der Süddeutschen Zeitung ebenso wie im Stern, im Spiegel und in vielen weiteren Medien ausführlich vorgebracht wurden?

Die jetzige Freilassung Genditzkis ist fast ein Wunder. Zwei Menschen haben ein ganz besonderes Verdienst daran: Der Journalist Hans Holzhaider, der in der SZ über mehr als zehn Jahre wieder und wieder auf die Ungereimtheiten des Falles hingewiesen hat, und die Anwältin Regina Rick, die in nahezu alleiniger Arbeit den Wiederaufnahmeantrag geschrieben hat. Ich empfinde große Hochachtung für beide. Fairerweise muss ich diese aber auch der Strafkammer am Landgericht München I aussprechen, die den Mut hatte, diese Freilassung anzuordnen.

Die Urteile wurde im Namen des Volkes gefällt, in unser aller Namen. Aber mehr als zehn Jahre lang hat keine staatliche Stelle in diesem Land sich dafür zuständig gefühlt, dem wohlbegründeten und vielfach vorgebrachten Verdacht auf ein Fehlurteil nachzugehen. Es bedurfte der Initiative von Privatmenschen, die Ungeheuerlichkeit aufzudecken, die die Justiz hier verübt hat.

Und dann waren (und sind) immer noch zahllose Hürden zu überwinden. Warum wurde der Wiederaufnahmeantrag zunächst als unzulässig verworfen? Warum bezeichnet die Staatsanwaltschaft ihn bis heute als unbegründet? Warum hat es mehr als drei Jahre gedauert, bis die Justiz sich entschieden hat, einen neuen Prozess zuzulassen? Wie viele Justizirrtümer bleiben angesichts solcher Hindernisse unentdeckt? Viele Fragen, denen sich die Justiz dringend stellen muss.

Professor Dr. Achim Clausing, Münster

Unfassbarer Vorgang

Danke für das hartnäckige journalistische Dranbleiben am vermeintlichen "Badewannen-Mord". Es ist unfassbar, wie lange sich die bayerische Justiz Zeit gelassen hat beim Hinauszögern einer Wiederaufnahme dieses Falles. Für mich ist das "Scheuklappen-Justiz", die an den Fall Mollath erinnert.

Hanne Tügel, Hamburg

Dramatische Fehler im System

Ich bewundere Hans Holzhaider für seine andauernde, unbeirrbare Berichterstattung in dieser zutiefst verstörenden, jeden redlichen Juristen beschämenden Angelegenheit. Seine klugen und glänzend geschriebenen Artikel haben zu diesem seltenen Sieg der Gerechtigkeit beigetragen.

Wie aber konnte es zu solchen Fehlurteilen kommen? Um mit der Macht eines Richters reflektiert und besonnen umzugehen, braucht es Interesse und Integrität. Das aber gilt keineswegs nur für den sogenannten Vorsitzenden Richter. Er fungiert im Strafprozess wegen eines Kapitalverbrechens nur als Primus inter Pares (Erster unter Gleichen). Tatsächlich gehören einer "großen Strafkammer" drei Berufsrichter und zwei ehrenamtliche Richter (Schöffen) an. Und doch herrscht der Eindruck vor, nur der Vorsitzende entscheidet über das Urteil, das er verkündet. Was ist mit den anderen vier Richtern?

Die beisitzenden Richter machen allzu oft genau das: Dabeisitzen. Das erleichtert dem Vorsitzenden die Verhandlungsführung. Die jüngeren Richter aber müssen sich mit dem Vorsitzenden Richter gut stellen. Wenn sie weiterkommen wollen in ihrer Richterlaufbahn, dann brauchen sie gute Beurteilungen und eine Empfehlung für höhere Aufgaben.

Auf die Schöffen wiederum wirkt das Gebaren eines Vorsitzenden Richters in seiner schwarzen Robe einschüchternd. Sie sollen "Menschen aus dem Volk" sein und haben oftmals keine höhere Bildung. Natürlich kennen sie sich mit Paragrafen nicht aus und wollen nicht vorlaut wirken. Am besten halten sie einfach den Mund, in der Verhandlung und auch später bei der Urteilsberatung. Die "echten" Richter werden sie nicht daran hindern. Man will ja fertig werden.

Ich habe es als Strafverteidigerin noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass ein Schöffe in der Hauptverhandlung auch nur eine Frage gestellt hat. Die ehrenamtlichen Richter haben in der deutschen Strafjustiz die Funktion einer stummen Staffage. Sie wagen es nicht, dem Vorsitzenden zu widersprechen, selbst wenn er sie auf die gesetzlichen Bestimmungen und darauf hingewiesen hat, dass sie dieselben Rechte und Pflichten haben wie die Berufsrichter.

In den Genditzki-Verfahren haben insgesamt sechs Berufsrichter und vier Schöffen versagt. Die vom Gesetz gewollte Gewaltenteilung im Strafprozess funktioniert nicht. Es wird immer wieder solche Fehlurteile geben, die aber nur dann ans Licht der Öffentlichkeit kommen, wenn Menschen wie Hans Holzhaider dafür sorgen.

Elisabeth von Dorrien, Andernach

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