Süddeutsche Zeitung

Konferenzen:Mit der Büßerkutte ins Aquarium

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Konferenzen bei der SZ: Was sich Außenstehende vielleicht als Beratung auf höchstem Fachniveau vorstellen, folgt in Wahrheit eigenen Gesetzen. Warum noch jeder Versuch, diese zu ändern, zum Scheitern verurteilt war.

Von Joachim Käppner

Zu den bemerkenswertesten Momenten, von denen der Autor dieser Zeilen in seinen vielen und langsam ins Nebulöse entrückenden Jahren bei der Süddeutschen Zeitung erfahren durfte, gehörte jener, als der Kollege Wolfgang Roth in einer Büßerkutte gekleidet zur Zwei-Uhr-Konferenz kam. Roth, Innenpolitik-Redakteur, gehörte zu den führenden Köpfen des "Streiflichts" und besaß als ein Leitwolf der intern so bezeichneten Edelfedern eine beachtliche Festigkeit gegenüber möglicher Missbilligung von ganz oben. Dessen ungeachtet muss sein Vorgehen als kühn bezeichnet werden.

Bei Roth war am Morgen ein rätselhaftes Paket mit dem Absender "Harold Pinter, London" und der Adresse "SZ Streiflicht" aufgetaucht. Nachdem das Paket dann von der Postabteilung untersucht und für ungefährlich angesehen worden war, wurde es geöffnet, darin fand sich eine Büßerkutte. Offenbar hielt der Absender die Streiflichtredaktion für den geeigneten Abnehmer. Roth zog das Wams zum Gang in die 14-Uhr-Konferenz an, die stets im Zimmer des Chefredakteurs stattfand. Dieser Chefredakteur, der letzte und (das ist als Kompliment gemeint) womöglich prächtigste in der Ahnenreihe klassischer SZ-Patriarchen, telefonierte gerade, kam aber ganz gegen seine Gewohnheit ins Stottern, als er den Hereintretenden erblickte.

Hören wir nun Roth selbst: "Er beendete er das Gespräch abrupt mit den Worten: ,Ich muss aufhören, hier ist etwas passiert. ... Was ist los, Herr Roth?' Ich antwortete sehr ernsthaft: ,Ich habe einen Fehler gemacht und muss nun einen Tag lang in der Innenpolitik die Büßerkutte tragen.'" Der Patriarch, der eine eher hanseatische Art des Humors pflegte, betrachtete ihn mit erheblichem Befremden. Er beließ es dabei, es waren ihm Züge der Güte nicht gänzlich fremd.

Große Meetings wurden damals übrigens im Konferenzraum abgehalten. Dieser genoss den Namen "Aquarium" aufgrund seiner Glaswände - ein innenarchitektonisches Meisterwerk übrigens, das aufgrund seiner materiellen Transparenz der Demokratisierung des redaktionellen Diskurses zum Durchbruch verhelfen sollte, oder so ähnlich. Dass es dazu nie kam, mag daran gelegen haben, dass der Qualm all der zigarettenrauchenden Herren (Damen bildeten damals eine kampfstarke Minderheit, pafften aber selten) den Raum ins Dunkel des Ungefähren sinken ließ.

Das Haus, das Aquarium, der Qualm, das alles ist längst Geschichte (nur die Kutte gehörte fortan zum Devotionalienschatz der Redaktion), doch eines hat sich nicht verändert: Konferenzen bei der Süddeutschen Zeitung gehorchen seit Ausgabe Nr. 1 grundsätzlich drei ehernen Erfolgsprinzipien.

Wenn alle nur noch labern und rumplanen, wer soll dann eigentlich noch Artikel schreiben?

Erstens: Niemand ist je zufrieden mit ihnen. Alle sagen: Welch eine Zumutung, diese Konferitis, und es wird immer schlimmer.

Zweitens: Bei Versuchen, Zeit zu sparen und den Kreis der Mitredenden sacht auf jene zu beschränken, die in der Konferenz im allerweitesten Sinne etwas vorzutragen hätten, bricht der Sturm los: So sei also der Tag gekommen, an dem bei der SZ die Zwei-Klassen-Gesellschaft ausgerufen wird. Rituell werden sodann Namen von Redaktionsheiligen angerufen, die gnädigerweise aufgrund ihres Ablebens diese dunkle Stunde nicht mehr erleben müssen. Öffnen die SZ-Herrschenden dagegen aufs Gutwilligste die zahllosen Runden, die über Themen, Plätze und Autoren entscheiden, werden keine drei Tage vergehen, bis dieselben Kritiker rufen: Wenn alle nur noch labern und rumplanen, wer soll dann eigentlich noch Artikel schreiben?

Drittens: Die Konferenzzeiten sind unablässigem Wandel unterworfen. Als der Verfasser einst zum Leitenden Redakteur berufen wurde, erkannte er zu spät, dass er die Teilnehmer der mit diesem Status verbundenen Runden fortan häufiger sehen würde als seine Kinder. Diese Teilnehmer (sowie die langsam anwachsende kampfstarke Minderheit der Teilnehmerinnen) traten nämlich zusammen um 9.45 Uhr zur telefonischen Vorkonferenz, um 10 Uhr zur Präsenzkonferenz im Zimmer des stellvertretenden Chefredakteurs (der im Gegensatz zum Boss über etliche nicht mit Manuskripten und Bewerbungen belegte Stühle verfügte) und um 10.30 Uhr zur Ressortzusammenkunft, die unverzüglich wissen wollte, warum die eben beendete Konferenz derart törichte Beschlüsse gefällt habe. Um 11 Uhr begab sich die Redaktion zur "großen Konferenz" in besagtes Aquarium, um im Rahmen des demokratischen Diskurses jenen, denen die Chefredaktion lobende Worte zukommen ließ, diese von Herzen zu missgönnen. Informelle Runden, welche die Beschlüsse der vorgenannten zu hintertreiben trachteten, sind nicht mitgerechnet.

Die gefährlichste Konferenz war eben jene um 14 Uhr. Sie erwischte die Teilnehmenmüssenden in jener Phase des Fokussierungsmangels, die aufgrund eines ausgiebigen Kantinenbesuchs eintritt. Die Leitung des Hauses nutzte dies gnadenlos aus, tat beängstigend hellwach und verlangte: Aktualität! Flexibilität! Unabhängig vom Ergebnis wurde um 17 Uhr zur Titelkonferenz gerufen. Obwohl die Zahl der Anwesenden hoch war, fand sich niemals der oder die Schuldige, die dort "diese Titelei heute verbrochen hat", wie es anderntags auf der großen Konferenz hieß.

2008 zog die SZ um in ein schwarzes Hochhaus, das, wie man hört, der Architekt und er allein für eine Art achtes Weltwunder halten soll. Umgehend warnten Kritiker: Fernab der Welt und der herrlichen Bierhallen nahe des alten Pressehauses in der Sendlinger Straße sitze man nun buchstäblich im Glasturm. Dort werde, nein müsse das Konferenzwesen der SZ herabsinken auf das Niveau des "Hasenstüberls", des einzigen Lokals in halbwegs fußläufiger Nähe des neuen SZ-Domizils (anders als Böswillige vermuteten, handelte es sich um das Vereinslokal der örtlichen Hasenzüchter, mit idyllischem Garten an den Eisenbahntrassen).

An den Konferenzen veränderte sich dort draußen: gar nichts. Außer dem City-Blick von hoch oben. Wie seit den Gründertagen verlegten Reformkommissionen sie an den Rand der Mittagspause oder ins Dunkel des frühen Wintermorgens. Stets waren die Beteiligten voll des besten Willens und der Begründungen, warum endlich eine Ära nutzerorientierter Kommunikation beginnen werde. Zurzeit schlägt das Pendel ärgerlicherweise wieder ins Nocturne aus: Wer Tor genug ist, zur Morgenkonferenz um 8.45 Uhr nicht schon in diskreten Vorkonferenzen das Nötige geregelt zu haben, kann sehen, wo er bleibt. Damit alles besser wird, soll die Runde künftig übrigens schon etwas früher beginnen.

Die "große Konferenz": Arena für Hahnenkämpfe und Clash der Kulturen

Natürlich, Dinge ändern sich. Über Jahrzehnte haben Leute behauptet, die Anwesenheit von mehr Frauen in Leitungsgremien werde den Ton der Konferenzen verbessern. Viele Herren hat das eher amüsiert. Verblüffend, ja unerklärlich, warum es dennoch so gekommen ist.

Natürlich, Dinge ändern sich nie. So ist jene Zusammenkunft, die derzeit um 11.45 Uhr steigt und noch immer als "die große Konferenz" bezeichnet wird, wie sie immer war: Arena für Hahnenkämpfe, des harten Ringens um den richtigen Weg, des Clashs der Kulturen. Bis heute beharren manche Ressortchefs und -chefinnen dort bei Kritik darauf, alles richtig gemacht zu haben, auch wenn die Beweislage für das Gegenteil so eindeutig ist wie CCTV-Aufnahmen vom Täter, der gerade mit dem Bolzenschenider ein Fahrradschloss knackt. Wie zu allen Zeiten gibt es Wortführer und Wortführerinnen, die Missstände mit dem beifallheischenden Gestus eines, siehe oben, Bußpredigers beklagen, ganz unabhängig davon, ob diese Missstände wirklich bestehen oder von den Nachfolgern der Patriarchen längst beseitigt wurden. Manchmal stehen wenige Aufrechte allein gegen die tobende Menge, so wie der Verfasser, als er die Auffassung vertrat, die herrliche Magnetschwebebahn Transrapid als Anbindung für den Flughafen MUC sei ein Geschenk für das bockbeinige München, das ihn nicht wollte (haha - und was habt ihr jetzt davon? Eine Stunde Flughafentransit über die Dörfer).

Manchmal stehen sich Blöcke gegenüber - unversöhnlich und außerstande, den anderen zu verstehen

In anderen Fällen stehen sich in der Konferenz Blöcke gegenüber wie gepanzerte Heerhaufen des Mittelalters, unversöhnlich und völlig außerstande, durch die Sehschlitze der Hundsgugel etwas anderes wahrzunehmen als eine sehr schmale eigene Sicht der Dinge. Zu Beginn der Wiesn beklagen die einen voller Leidenschaft: Hat bei uns schon je jemand thematisiert, dass dort Alkohol ausgeschenkt wird? Und wir zeigen Bilder vom FASSANSTICH!!! Ist es nicht unsere Pflicht, die Menschen vor Schaden zu bewahren? Andere feuern mit ähnlich schwerem Kaliber zurück, sinngemäß: So weit sind wir also, dass manche WELTVERBESSERER hier am liebsten sechs Millionen SZ-Sonderexemplare auf dem Oktoberfest verteilen würden, voller Belehrungen, wie sich die Menschen korrekt zu verhalten hätten.

Manchmal schaudert den Verfasser bei dem Gedanken, was der Prächtigste aller Patriarchen bei derlei Debatten sagen würde. Besonders verabscheute er nämlich Gewein und Litaneien, gleich ob berechtigt oder nicht, gleich aus welcher Gesinnung heraus. Er hätte wohl, sobald Jammerei sein Ohr behelligte, die Verursacher auf die Bewerbungsstapel in seinem Büro hingewiesen: Da draußen warten Hunderte auf Ihren Job ...

Anders herum gesehen: Die einen wie die anderen streiten sich heute in den Konferenzen so engagiert, wie es sich für einen demokratischen Diskurs gehört. Viele sind anstrengend, aber sie trauen sich was. Und die meisten nehmen den anderen den Streit nicht lange übel. Er ist im Sinne ihrer gemeinsamen Liebe, der Süddeutschen Zeitung.

Nur was diese woke Kollegin da neulich über unser Idol Winston Churchill hingekritzelt hat, das kann nicht unwidersprochen bleiben. Warte nur. Wir sehen uns in der großen Konferenz.

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