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Karriere in MINT:Was läuft schief im Chemieunterricht?

Lesezeit: 5 Min.

Von Larissa Holzki

Es ist ein neuer Rekord: Unternehmen in Deutschland hätten im Herbst weitere 496 200 Menschen mit naturwissenschaftlich-technischer Ausbildung einstellen wollen. Doch sie sind auf dem Arbeitsmarkt schwerer denn je zu finden. Wer in Mathematik, Informatik, einer Naturwissenschaft oder Technik qualifiziert ist, der hat in der Regel bereits einen gut bezahlten Job. Das vermeldet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln in seinem MINT-Herbstreport.

Arbeitgebernahe Institute wie das IW bewerben naturwissenschaftlich-technische Ausbildungen und Studiengänge seit Jahren. Die Absolventen werden unter anderem für die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen gesucht. Fehlen Menschen mit dieser Ausbildung, bringt die deutsche Wirtschaft also weniger Innovationen hervor und fällt im internationalen Wettbewerb zurück. Das allerdings kümmert viele Jugendliche nicht, wenn sie sich für Leistungskurse, Ausbildungswege oder Studiengänge entscheiden.

Experimentieren, dokumentieren, Fehler machen, nochmals versuchen - ob Schüler einen Forscherehrgeiz entwickeln, entscheidet sich in der Schule vor allem in Physik und Chemie. Doch MINT-Fächer machen keinen Spaß, sagt etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in einer Befragung durch das Beratungs- und Prüfungsunternehmen PwC - Mädchen noch häufiger als Jungen. Sehr viele Schüler (43 Prozent) und viele Schülerinnen (29 Prozent) geben an, dass sie sich für diese Fächer nicht interessieren. Die Wahl der Leistungskurse spiegelt das wider: Weniger als fünf Prozent der angehenden Abiturienten wählen Chemie oder Physik als Schwerpunkte, berechnet das MINT-Bildungsbarometer von Acatech und der Körber-Stiftung. Informatik steht an letzter Stelle der gewählten Fächer.

"In jede Chemiestunde gehört mindestens ein Experiment"

Axel Franke wundert das nicht. Speziell sein Fach habe ein Imageproblem: Mit Chemie würden die meisten Menschen erst mal schlechte Dinge verbinden, sagt der pensionierte Chemielehrer aus dem Harz. Ihm fallen unzählige Beispiele ein: "Treibhauseffekt, Smog, saure Niederschläge, Waldsterben, Mikroplastik, Monokulturen, Pestizide, Überdüngung, Grundwasserbelastung, Massentierhaltung, Artensterben, Contergan, Chemieunfälle...". All das sind ernstzunehmende Probleme. Aber ohne Chemie wäre das Leben auch viel beschwerlicher.

"Chemie macht das Leben in allen Bereichen angenehmer", sagt Franke. Im Alltag begegnet sie den Schülern ständig - in der atmungsaktiven Bettwäsche, in Zahnpasta und Duschgel, in Schminke und Parfums, in den Kunstfasern und Farben ihrer Kleidung, in Auto und Schulbus, in Smartphones und Flachbildschirmen, in Medikamenten, Feuerwerkskörpern und so fort.

Wenn Schüler Chemie langweilig finden, so folgert Franke, dann muss im Unterricht ganz schön viel schieflaufen. Der Pensionär darf das sagen: Die Gesellschaft Deutscher Chemiker hat ihn kürzlich mit dem Friedrich-Stromeyer-Preis ausgezeichnet, dem renommiertesten Preis für Chemielehrer in Deutschland. Wie also geht guter Chemieunterricht?

Zunächst mal mit dem Alltagsbezug. Warum ist denn überhaupt Mikroplastik im Haarshampoo? Und wie kriegen wir das hin mit dem Recycling? Das sind Fragen, die sich viele Jugendliche stellen und die Franke mit ihnen beantwortet hat: theoretisch und praktisch. Denn sein Credo ist: "In jede Chemiestunde gehört mindestens ein Experiment" - und zwar live, nicht im Video. Chemieunterricht soll alle Sinne ansprechen. In den Stunden bei Franke am Robert-Koch-Gymnasium in Clausthal-Zellerfeld hat es deshalb oft geknallt. Seine Schüler haben aus Mandarinenschalen ätherische Öle gemacht und selbst Joghurt und Käse hergestellt. Und wie man bengalische Feuer einfärbt, hat er ihnen auch gezeigt.

Ausreden wie teure Materialien und schlechte Ausstattung lässt Franke denn auch nicht gelten. Statt Bunsenbrenner reiche oft ein Teelicht für jeden Schüler. Der Gipskreislauf lässt sich mit Überresten von Renovierungsarbeiten erklären. Aber er leugnet nicht, dass guter Chemieunterricht aufwendig ist. Materialien müssen besorgt, Versuche geprobt, aufgebaut und wieder abgebaut werden. Die Entsorgung der Materialien sei teilweise mühsam. Und dann sei da noch diese "verdammte Gefährdungsbeurteilung", sagt er: Chemielehrer müssen vor jedem Experiment erst mal protokollieren, was dabei schlimmstenfalls passieren kann und warum der Lerneffekt nicht auch anders zu erreichen ist. Gerade bei spontanen Nachweisreaktionen dauere das in einer 45-Minuten-Unterrichtseinheit zu lange und verunsichere die Lehrkräfte: "Viele Materialien kriege ich in jedem Supermarkt, aber junge Kollege trauen sich nicht, sie einzusetzen".

Zahlreiche Schulleiter sind allerdings schon froh, wenn sie überhaupt Chemielehrer und andere MINT-Pädagogen finden. Denn der viel beschriebene Lehrermangel trifft vor allem die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer, wobei Gymnasien besser versorgt sind als Schulen, die nicht zum Abitur führen. Auf den Fächerlisten, die Berufsschulen in verschiedenen Bundesländern mittlerweile für Seiteneinsteiger geöffnet haben sind Elektrotechnik, Fahrzeugtechnik, Metalltechnik meistgenannt.

Da zeigt sich, wie sich die Fachkräftelücke selbst ernährt. Denn obwohl Seiten- und Quereinsteiger für diese Fächer besonders geeignet sind, sind sie nicht die Lösung des Problems. Die Arbeitsmarktsituation ist einfach zu gut, zeigt der MINT-Herbstreport des IW: Die Absolventen werden in der freien Wirtschaft gut bezahlt. Ein Meister oder Techniker mit solch einer Ausbildung verdient im Mittel 4600 Euro im Monat, andere Spezialisten nur 4000 Euro. Auch die MINT-Akademiker verdienen überdurchschnittlich gut, im Mittel 5500 Euro monatlich. Der Anteil der befristeten Verträge ist zudem relativ gering. Mit dem Verdienst und einer möglichen Verbeamtung als Lehrer sind potenzielle Seiten- und Quereinsteiger mit MINT-Expertise also relativ schwer zu locken.

Nur 160 280 Personen mit Fähigkeiten in diesen "MINT"-Fächern waren im Herbst 2018 arbeitslos, etwa weil ihre Berufserfahrung oder ihre Spezialisierung nicht zu den ausgeschriebenen Stellen passte. Auf Stellen, die nur von studierten Biologen und Chemikern besetzt werden können, gibt es derzeit genug Bewerber. "Biologen können jedoch nicht ohne weiteres offene Stellen für Elektroingenieure oder Informatiker besetzen", sagt Axel Plünnecke vom IW Köln.

Zu einem großen Überangebot führt das aber nicht: Insbesondere den Akademikern bieten sich viele Alternativen. Ihnen stehen zum Beispiel Wege ins Management von High-Tech- und Industrieunternehmen offen. Für den Vertrieb von Kameras und Fernsehgeräten werden Menschen gesucht, die sich mit technischen Details auskennen. Karrierechancen gibt es zudem im Controlling und in Unternehmensberatungen. So bleiben ausgerechnet für die Schüler wenige MINT-Lehrkräfte übrig, die auf dem Arbeitsmarkt gerade besonders gesucht werden: die Schüler an den Berufsschulen. Für mehr als zwei Drittel der offenen MINT-Stellen werden Arbeitskräfte mit einer Berufsausbildung gesucht.

"In Chemie muss man relativ wenig wissen"

Im Rahmen der Pisa-Studie 2015 wurden Schüler gefragt, ob sie sich eine Karriere in den Naturwisschenschaften zutrauen und sich als Erwachsene etwa als IT-Expertin, Ingenieur oder Ärztin sehen. Nur jeder sechste deutsche Schüler konnte sich das vorstellen - im OECD-Schnitt war es jeder vierte. Aus Sicht von Axel Franke tragen Eltern, Politiker und Prominente zu diesem geringen MINT-Selbstbewusstsein bei: "Es gibt eine gewisse Kultur, sich in der Öffentlichkeit mit schlechten Noten in den MINT-Fächern zu brüsten: Von Chemie hatte ich keine Ahnung, Mathe habe ich nie hingekriegt - diese Kultur geht mir gegen den Strich", sagt der pensionierte Lehrer.

Dass gerade die Chemie vielen Schülern kompliziert erscheint, liegt wohl auch an der chemischen Zeichensprache und dem chemischen Rechnen. Auch das Baukastenprinzip kann zum Problem werden, wenn ein Thema nicht verstanden wurde: "In der Chemie baut alles aufeinander auf", sagt Franke: "In Chemie muss man relativ wenig wissen, das aber sicher beherrschen", sagt er. Deshalb brauche es unbedingt Übungs- und Wiederholungsphasen.

Mit seinen eigenen Schülern hat der Chemielehrer Selbstbewusstsein in Wissenschaft und Forschung ganz bewusst geübt: bei Wettbewerben, Messen und selbst veranstalteten Chemieshows. Im vergangenen Jahr wurden sie sogar nach Bologna zu einem Kongress eingeladen, um ein Projekt zu präsentieren. Damit kann Axel Franke sich brüsten - seine Vier damals im Referendarszeugnis war wohl ohnehin nicht so aussagekräftig.

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