Süddeutsche Zeitung

Frage an den SZ-Jobcoach:Bin ich verrückt, wenn ich nicht in Rente gehen will?

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Rainer K. müsste formal demnächst in den Ruhestand gehen. Doch diese Aussicht reizt ihn überhaupt nicht. Wie vermittelt er das seinem Arbeitgeber?

SZ-Leser Rainer K. fragt:

Ich bin im besten Alter (zumindest aus meiner Sicht) und müsste formal in einigen Jahren in Ruhestand gehen. Eigentlich habe ich darauf aber gar keine Lust. Ich habe schon immer gerne gearbeitet, der "wohlverdiente Ruhestand" ist für mich eine wenig verlockende Perspektive, im Gegenteil. Außerdem sieht es auch finanziell nicht gerade rosig aus, da ich mich bei meiner Rente deutlich einschränken müsste. Bin ich verrückt, wenn ich einfach nicht aufhören möchte?

Madeleine Leitner antwortet:

Lieber Herr K., das Thema Ruhestand ist ein ständiger Zankapfel in der Politik. Man denke nur an den viel zitierten Dachdecker, der aus gesundheitlichen Gründen das Rentenalter erst gar nicht erreicht. Lange Zeit ging es darum, einen früheren Ruhestand zu ermöglichen, dann wieder wurde das Renteneinstiegsalter heraufgesetzt.

Was oft unterschätzt wird: Arbeit hat aus psychologischer Sicht zwei wichtige Funktionen: Sie bringt Struktur in den Alltag und ist ein automatischer Beziehungsgenerator. Ein durchgetakteter Tag und soziale Kontakte sind zwei wesentliche Bedingungen für die psychische Gesundheit. Entfallen diese, drohen Depressionen. Das ist einer der Gründe, warum viele Menschen mit dem Eintritt den Ruhestand in ein tiefes Loch fallen, statt das vermeintlich süße Nichtstun zu genießen.

Immer mehr Menschen betrachten ihren Beruf nicht mehr als reinen Broterwerb oder gar notwendiges Übel, sondern als Quelle von persönlicher Erfüllung und Sinn. Viele beruflich erfolgreiche Menschen jenseits der Fünfzig oder sogar Sechzig suchen Rat und möchten sich noch einmal verstärkt mit ihren beruflichen Zukunftsplänen und Lebensträumen beschäftigen. Andere überlegen, ob sie in einer Selbständigkeit endlich nach ihren eigenen Vorstellungen arbeiten könnten. Wieder andere möchten herausfinden, wie sie aus der Routine ihrer langjährigen Tätigkeit ausbrechen und sie noch besser auf ihre Bedürfnisse zuschneiden können, damit ihnen die Arbeit wieder mehr Freude macht.

Generell lohnt es sich auf jeden Fall, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob das klassische Modell des Ruhestands für einen persönlich geeignet ist. Für manche Menschen ist es besser, so lange wie möglich beruflich aktiv zu bleiben. Sie fühlen sich nicht gebunden an eine traditionelle Altersgrenze, die historische Wurzeln hat und aus einer Zeit stammt, wo die Rente eine Art Gnadenbrot nach einem Leben voller schwerer Arbeit war. Und in der Regel auch nur wenige Jahre bezogen wurde und nicht wie heute angesichts der gestiegenen Lebenserwartung jahrzehntelang.

Objektiv hindert Sie also nichts daran, weiter zu arbeiten. Könnte Ihre Firma weiter Interesse an Ihrer Expertise haben? Der vielbeklagte Fachkräftemangel könnte Ihnen dabei in die Hände spielen. Fragen Sie nach! Zudem gibt es auch auf Seiten der Rentenkasse mit der Flexi-Rente neue Möglichkeiten, den Renteneintritt schrittweise oder ganz herauszuschieben und die Rentenbezüge dadurch sogar noch zu erhöhen.

Oder könnten Sie sich auch anderswo als freier Mitarbeiter oder Berater verdingen? Haben Sie besondere Interessen, die Sie in einer Selbständigkeit verfolgen könnten? Falls Sie dann schon Rente beziehen, haben sie sogar finanziell den Rücken frei oder ein Zubrot. Und am wichtigsten: Lassen Sie sich nicht aufgrund Ihres Lebensalters abstempeln! Seniorität und Lebenserfahrung klingen anders als "alt". Und die klassischen Tugenden, die einst den Standort Deutschland ausgezeichnet haben, sind heute alles andere als selbstverständlich.

Madeleine Leitner ist Diplom-Psychologin und lebt als Karriereberaterin in München.

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Quelle:
SZ vom 24.08.2019
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