Süddeutsche Zeitung

Job:18 Monate am Ende der Welt

Lesezeit: 5 min

Finsternis, Einsamkeit und wochenlang kein Telefonat nach Hause: Wie Forscher in einer Antarktis-Station auf engstem Raum miteinander leben und arbeiten.

Von Sigrid Rautenberg

Dezember 2017. Aurelia Reichardt sitzt mit 15 anderen Passagieren in einem kleinen Flugzeug, das im Süden von Chile gestartet ist. Lange ist nur Meer unter ihr zu sehen, dann tauchen die ersten Eisberge auf, bald auch Gletscher. Schließlich steuert die Dash 7 eine Schotterpiste an. Sie liegt am Rande einer großen Insel direkt am Meer, umgeben von Bergen und Gletschern, daneben ein paar versprengte Gebäude.

Als Aurelia Reichardt aussteigt, fällt ihr Blick auf einen Seeleoparden, der auf einem Eisberg sitzt. Sie erinnert sich gut an ihren ersten Eindruck: "Plötzlich ist sonst nichts mehr um einen herum - das ist gigantisch." Für die nächsten 18 Monate wird die britische Rothera-Forschungsstation ihr Arbeitsplatz sein und ihr Zuhause. Fernab von Freunden und Familie, dafür in großer Nähe zu einer überschaubaren Zahl anderer Menschen in einer der unwirtlichsten Gegenden der Welt.

Bootsausflug am Südpol: Im antarktischen Sommer ist es dauerhaft hell, im Winter ist es nur wenige Stunden dämmrig, sonst herrscht Dunkelheit.

Die Antarktis ist zu 98 Prozent mit Eis bedeckt. Bevor sie die Eisdecke mit der Kettensäge öffnen, markieren die Forscher ein Rechteck im Boden.

Einstieg ins Meer: Für den Tauchgang lässt sich die Meeresbiologin durch die Öffnung in die Tiefe hinab.

Sicher verbunden mit der Oberfläche: Die Forscherin taucht zwischen Eisbergen.

Blick vom Mount Trident: Das Team, das in der Antarktis überwintert, darf in seiner Freizeit zwei längere Touren unternehmen.

"German Volksfest" auf Rothera: Meeresbiologin Reichardt backt Brezen und Schwarzwälder Kirschtorte für die ganze Station.

Heimaturlaub oder Besuche werden in dieser Zeit nicht möglich sein, das weiß Reichardt. Im Winter gibt es weder Schiffs- noch Flugverkehr, die Sommersaison wiederum ist zu arbeitsintensiv. Davon abgesehen sind die Kosten für Transfers in die Antarktis hoch.

Ganz unbewohnt ist der Kontinent, der fast 40 mal so groß ist wie Deutschland, übrigens nicht. In mehr als 80 Forschungsstationen arbeiten in den Sommermonaten etwa 4000 Wissenschaftler. Im Winter, wenn es bis zu minus 40 Grad Celsius kalt wird, bleiben immerhin noch rund 1000. Sie halten den Betrieb der Stationen aufrecht, führen Langzeitmessungen und Experimente durch.

Für Reichardt ist der Job in der Forschungsstation ein großes Abenteuer. Die 25-Jährige hat einen Bachelor in Biologie und einen Master in Meeresbiologie, es ist die erste richtige Stelle nach der Uni. Sie will ihrer neuen Aufgabe unbedingt gerecht werden, daher ist ihr etwas mulmig zumute. Die Aussicht auf monatelange Dunkelheit oder Kälte kümmert die junge Wissenschaftlerin anfangs weniger.

Bis zu 150 Menschen arbeiten auf der Forschungsstation

Rothera ist die größte Antarktis-Einrichtung der British Antarctic Survey. Im Jahr 1975 gegründet, arbeiten in den Sommermonaten zwischen Oktober und April bis zu 150 Menschen dort, im Winter sind es lediglich 26. Ihre Mission ist die biologische Erforschung der Region und die Versorgung der weiter im Innern des Festlands gelegenen Stationen.

Reichardt hat zwei Aufgaben: Zum einen betreut sie ein eigenes Projekt und untersucht, welchen Einfluss die extremen Lichtbedingungen auf Meeresalgen haben. Zum anderen hat sie, wie alle Forscher hier, auch eine für alle unterstützende Aufgabe. Da sie während des Studiums in Rostock eine Ausbildung zur Forschungstaucherin gemacht hat, kümmert sie sich als Teil des Marine-Teams um Taucharbeiten. Sie nimmt beispielsweise Meerwasserproben für Kollegen, die selbst nicht tauchen können.

Auf den Fotos in ihrem Blog sieht man sie zwischen Eisbergen knapp über dem Meeresgrund schwimmen. Andere Bilder zeigen sie in ihrer Freizeit beim Skifahren in einer überwältigend schönen Landschaft. Trotz des eingeschränkten Bewegungsspielraums, erzählt Reichardt, werde es in der Freizeit selten langweilig. Bei schönem Wetter gehen die Forscher in den nahegelegenen Bergen klettern und wandern, sie spielen Fußball, joggen, fahren Rad auf der Landebahn oder beobachten Robben und Wale.

Die Station hat ein Fitnessstudio, eine Bibliothek und einen Musikraum. Oft gründen sich Bands, die vor den Teammitgliedern auftreten. "Aber manchmal muss man auch einfach einen Abend auf der Couch mit einer heißen Schokolade und einem guten Film verbringen." Die beiden Telefonboxen auf der Station sind am Wochenende fast ständig belegt, ein Gespräch mit Familie oder Freunden ergibt sich nur alle zwei bis drei Wochen.

Die eigentlichen Herausforderungen, das merkt Reichardt schon nach kurzer Zeit, sind gar nicht die Umweltbedingungen oder die Arbeit. "Das Schwierigste sind die zwischenmenschlichen Konflikte", sagt sie. "Viele Dinge kann man erlernen, aber man muss schon mit einem bestimmten Charakter hierherkommen, um das zu meistern." Hart sei das Zusammenleben vor allem im Winter, wenn es am Tag nur wenige Stunden dämmrig und sonst dunkel ist. Vielen drückt das aufs Gemüt.

Aktivitäten außerhalb der Station sind dann stark eingeschränkt. Die 26 Bewohner können sich kaum aus dem Weg gehen. Arbeit, Freizeit, kochen, essen, der Stationsputz am Freitagnachmittag - alles findet gemeinsam statt. Schnell erkennt Reichardt, dass die Menschen um sie herum zunächst mal ihre Kollegen sind und sie nicht mit jedem befreundet sein kann. "Aber auf der anderen Seite habe ich hier in allerkürzester Zeit intensive Freundschaften aufgebaut. Zu Hause wäre das so nicht möglich gewesen. Bei allen Schwierigkeiten - im Winter wird das Team zur Familie."

Aber selbst die kann nicht helfen, wenn einen mal schlimmes Heimweh erwischt. Was bei Reichardt zum Glück nur einmal der Fall war, nach einem der seltenen Telefonate mit der Familie - da wollte sie dann nicht mehr Englisch sprechen, keinen englischen Tee mehr trinken, sondern einfach ein Stückchen ihrer Berliner Heimat spüren. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und schaute sich den Film "Sonnenallee" an.

Reichardt hat festgestellt: Um Konflikte zu vermeiden oder einzudämmen, ist es wichtig, auf einer professionellen Ebene miteinander umzugehen. Und vor allem, offen zu kommunizieren und nichts in sich hineinzufressen. "Dabei habe ich vor allem gelernt: Die anderen meinen es oft nicht so." Kompromissbereitschaft und die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, sind auch im Sommerhalbjahr wichtig, wenn wieder Schiffe anlegen und Flugzeuge landen und die Station so voll ist, dass die Bewohner sich die 40 Doppel- und zwölf Vierbettzimmer teilen müssen. Wenn wieder einmal alle Waschmaschinen und Trockner belegt sind oder - ein ständiger Streitpunkt - jemand das Toilettenpapier nicht aufgefüllt hat, heißt es Nerven bewahren.

Schon im Bewerbungsprozess wurden die sozialen Kompetenzen abgeklopft. Dabei hätte Reichardt sich fast nicht beworben. Zwar hatte sie die Ausschreibungen der British Antarctic Survey schon während ihres Meeresbiologie-Studiums in Bremen gesehen, aber als sie den Masterabschluss dann in der Tasche hatte, traute sie sich zunächst nicht: "Ein Traumjob, dachte ich, aber andere sind bestimmt hundertmal qualifizierter als ich!"

Wenn alles klappt, kehrt sie im Herbst nach Rothera zurück

Aber der Gedanke ließ sie nicht los, das Angebot klang zu verlockend, und ein Freund hatte ebenfalls schon seine Bewerbung hingeschickt. Reichardt, die durch mehrere Auslandsaufenthalte bereits sehr gut Englisch sprach, wurde schließlich unter rund 80 Bewerbern ausgewählt. In den Interviews musste sie auch Fragen zum Umgang mit anderen Menschen beantworten und aufschreiben, wie sie in Rothera ihre Freizeit verbringen würde.

Zwischen Zusage und Abreise besuchte sie noch ein Vorbereitungsseminar. Sie lernte Erste Hilfe und Sicherheitsmaßnahmen, den Umgang mit wilden Tieren, alles über die richtige Bekleidung oder wie man das Einschleppen von invasiven Arten in die Antarktis verhindert. Mitarbeiter berichteten von ihren Erfahrungen. "Ich konnte selbst prüfen, ob ich geeignet bin. Doch man kann vorher noch so viele Drohnenvideos anschauen oder Bücher über die Antarktis lesen - eigentlich kann man sich nicht vorbereiten", sagt sie. "Mein Antarktis-Aufenthalt ist definitiv eine lebensverändernde Erfahrung."

Jetzt, wo Reichardt in wenigen Tagen nach Hause reist, sich auf Familie und Freunde freut und darauf, wieder Gerüche in der Natur wahrzunehmen oder durch Gras und Sand zu laufen, ist sie wehmütig. Der einmalige Ort ist für sie Heimat geworden, die Kollegen zur neuen Familie. Kürzlich hat sie sich für einen zweiten Aufenthalt beworben. Wenn alles klappt, kommt sie im Herbst schon wieder zurück.

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Quelle:
SZ vom 30.03.2019
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