Süddeutsche Zeitung

Gehalt:Pendelzeit ist Arbeitszeit

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Viele Berufstätige fangen schon auf dem Weg ins Büro an zu arbeiten und tun es noch auf dem Heimweg. Das wäre auch gut so - wenn sie dafür entschädigt würden.

Kommentar von Larissa Holzki

Wer pendelt, arbeitet oft länger und mehr. Das lässt sich im Zug täglich beobachten: Morgens klappen viele Berufstätige den Laptop auf und gehen schon mal Präsentationsfolien durch. Abends beantworten sie noch ein paar E-Mails. Obwohl viele Pendler sagen würden, dass sie die Fahrtzeit auf diese Weise freiwillig für den Job nutzen, muss doch gelten: Wer unterwegs arbeitet, muss dafür einen Ausgleich bekommen.

Die Beobachtung hält wissenschaftlichen Untersuchungen stand. Forscher der University of the West of England haben jüngst 5 000 Pendler von und nach London gefragt, was sie unterwegs tun und anschließend vorgeschlagen, die Pendelzeit zu honorieren. Gewerkschafter greifen das nun als Forderung an die Gesetzgeber auf. Und das ist auch deshalb folgerichtig, weil sich heute viele Arbeitnehmer von ihrem Gehalt keine Wohnung am Unternehmensstandort mehr leisten können. Pendeln ist deshalb kein Privatvergnügen, sondern eine Leistung der Arbeitnehmer und ihrer Familien.

Die Behauptung, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ohnehin verschwimmt und sich die Leistung an anderer Stelle ausgleicht, ist unwahr. Tatsächlich dehnt sich die Arbeitszeit einseitig in die Freizeit aus. Dass die Tochter auf der Arbeit anrufen kann, wenn es in der Schule Ärger gab, ändert daran nichts. Dieser Anruf ist keine Ablenkung vom Job, sondern der Preis, wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten sollen. Etwas völlig anderes ist es dagegen, wenn der Chef beim Abendessen anruft und wissen will, wie ein Meeting verlaufen ist. Die Firma hat kein Recht, die Familienzeit zu stören. Sie muss sie im Interesse der Gesundheit ihrer Mitarbeiter sogar schützen.

Pendeln ist kein Privatvergnügen, sondern eine Leistung der Arbeitnehmer

Bei der Arbeit im Zug von Freiwilligkeit zu sprechen, ist zudem Augenwischerei. Wer unterwegs Folien bastelt oder mit Kunden telefoniert, steigert mittelfristig den Erwartungsdruck - für sich und alle anderen. Denn wer zehn Stunden arbeitet, schafft mehr. Dem Vorgesetzten ist im Zweifel egal, wo und in welcher Zeit er die Arbeit macht. Am Ende zählt das Ergebnis. Der Pendler wird Opfer seiner selbst gesetzten Maßstäbe, die anderen können sich ein Beispiel an ihm nehmen.

Doch es wäre Unsinn zu fordern, Arbeitnehmer sollten im Zug nicht arbeiten. Sie haben ja recht damit, ihre Zeit auf diese Weise effizient zu nutzen. Wer jede Woche mehrere Stunden aus dem Fenster schaut, sieht doch nur seine Lebenszeit vorbeirauschen. Wer im Zug arbeiten kann und will, sollte das tun. Ein Gesetz, das Pendelzeit eins zu eins zu Arbeitszeit erklärt, mag politisch und wirtschaftlich utopisch sein - noch. Weil nicht jeder gleichermaßen im Zug arbeiten kann, weil Wlan und Funkverbindung unterwegs nicht verlässlich sind, weil es Streit um Mindestentfernungen und arbeitstaugliche Verkehrsmittel und Verbindungen geben würde. Es hilft aber, das Unmögliche zu denken, um das Machbare durchzusetzen.

Zum Beispiel könnte Büroarbeitern für die Dauer der Pendelzeit Telearbeit ermöglicht werden. Dabei vereinbaren Mitarbeiter mit dem Unternehmen, welche Termine und Aufgaben innerhalb des Betriebs wahrzunehmen sind und welche Tätigkeiten von außerhalb erledigt werden können. Die Präsenzzeit im Betrieb würde bei so einer Regelung um die Anfahrtszeit des Mitarbeiters reduziert. Wer dann lieber Auto fährt oder Pech mit dem Netz hat, entzerrt zumindest den Verkehr zu den Stoßzeiten und kann von zu Hause aus noch eine Stunde arbeiten. Zumindest aber sollten Pendler anfangen, über ihre Berufstätigkeit unterwegs Buch zu führen. Das wäre eine gute Vorbereitung auf die nächste Verhandlung um Arbeitszeiten und Vergütung.

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Quelle:
SZ vom 29.09.2018
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