Süddeutsche Zeitung

Gastronomie:"Ich hatte keinen Bock mehr"

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Eigentlich hatte Michael Pröls mit dem Beruf des Kochs abgeschlossen. Doch dann starb der Vater, das elterliche Gasthaus brauchte einen Nachfolger. Die Geschichte einer Rückkehr.

Von Florian Müller

Der Gastwirt Peter Pröls ist gerade auf einer Bundesstraße in der Oberpfalz unterwegs, um die letzten Zutaten für ein Hochzeitsmenü zu besorgen, als ein Laster seinen Lieferwagen beim Abbiegen rammt. Die Wucht ist so groß, dass beide Fahrzeuge erst hundert Meter weiter in der Böschung zum Liegen kommen.

Zur selben Zeit steht Michael Pröls, sein Sohn, 400 Kilometer entfernt in der Warteschlange am Eingang eines Musikfestivals. Sein Handy klingelt, es ist seine Mutter: "Papa liegt im Krankenhaus, du musst sofort kommen." Etwas widerwillig lässt Michael seine Freunde zurück und macht sich auf den Weg. Sein Kopf ist voller Fragen und Sorgen, wie er später erzählt.

Im Klinikum erfährt er: Sein Vater ist tot. "Ich war total überfordert damit", sagt er ein Jahr danach. "Und bin es, glaub ich, immer noch." Der Tod des Vaters ist der Wendepunkt im Leben des 22-Jährigen. Er reißt den jungen Mann aus einer Phase der Orientierungslosigkeit. Und er gibt ihm eine neue Aufgabe: den elterlichen Gasthof weiterzuführen.

Es ist ein Sonntag im Sommer: Eingebettet in den grünen Hügeln des Oberpfälzer Waldes liegt das Dorf Trausnitz, in dem die Familie Pröls lebt, nachweislich seit rund 370 Jahren. Unmittelbar neben der mittelalterlichen Burg steht ihr Gasthof "Das Landhaus". Die vier Räume sind mit viel Holz eingerichtet, teils urig, teils modern. Draußen auf der großen Terrasse empfangen Brautpaare ihre Gäste gern zu einem Glas Sekt. Die Leute kommen von weit her, um hier Leberknödelsuppe und Schweinshaxe zu essen.

Was die Gäste nie zu sehen bekommen: die Küche mit den beigen Blümchenfliesen, zu denen die modernen Edelstahlgeräte in hartem Kontrast stehen. Das Thermometer zeigt mehr als 30 Grad an, aus dem Radio dudelt Latino-Musik. Es ist kurz nach eins. Während in den Gaststuben 140 Menschen auf ihr Essen warten, herrscht in der Küche Hochbetrieb.

Michael, in weiter Baumwollhose und blauer Kochjacke, holt gerade Kartoffel- und Semmelknödel aus einem 50-Liter-Topf. Ein Koch zieht neben ihm den Schweinebraten aus der Röhre. Eine Küchenhilfe drapiert im Nebenraum Schokomousse mit Vanilleeis und Beeren auf einem Teller. Michaels Mutter Anke übergießt Lendchen mit Soße und haut auf die Tischglocke, damit seine Schwester Kristin den "Landhaus-Teller" für Tisch 23 abholt. Alles an diesem Tag läuft in der Küche so, wie es schon immer gelaufen ist - mit einem Unterschied: Peter Pröls koordiniert das Gewusel nicht mehr. Sein Sterbebild wacht von einer Ecke aus über das Treiben.

Gastwirt in elfter Generation

Nach dem Unfall hat die Familie keine Zeit zum Verarbeiten. Denn kaum zwei Tage später steht eine Hochzeit mit Dutzenden Gästen an. "Du kannst denen ja nicht absagen", sagt Michael. Also packt die ganze Verwandtschaft mit an. "Von allen Seiten kamen Hilfsangebote", erzählt Michael. Gemeinsam stemmen sie die Veranstaltung. "Aber das war schon hart."

Auch an den folgenden Wochenenden ist der Gasthof an Hochzeitsgesellschaften vermietet. Denen kann und will die Familie nicht das Fest vermiesen. Also machen sie weiter, verschieben die Trauer, verdrängen den Schmerz. Irgendwann machen sie auch am Sonntag wieder auf. Dann kommen die Weihnachtsfeiern von Firmen und Vereinen. "Inzwischen haben wir fast wieder normal offen, als ob nix gewesen wäre."

Eigentlich hatte Michael mit dem Beruf des Kochs abgeschlossen - und das, obwohl er ihm in die Wiege gelegt wurde. Schließlich ist er Gastwirt in der elften Generation: "Ich habe mir früher immer eingebildet, dass ich eh mal Koch werde. Und mit der Einstellung bin ich auch an die Schule und an alles andere rangegangen."

Nach der Realschule in der nächsten Kleinstadt fängt Michael eine Lehre bei einem Sternekoch im Bayerischen Wald an. Für den damals 16-Jährigen heißt es Teller anrichten lernen. "Wenn da 25 Komponenten auf so einem Teller drauf sind und du jedes Futzerl extra hinmachen musst, teilweise mit einer Pinzette, da kommst du am Anfang schon ins Schwitzen", sagt er. Doch Michael beißt sich durch die drei Lehrjahre, er lernt, die Vorspeisen für Fünf-Gänge-Menüs zu kreieren und das Naschwerk fürs Dessert.

Nach der Lehre geht er in ein Fünf-Sterne-Resort in der Schweiz nahe Liechtenstein. Eine schöne Zeit in einer schönen Gegend, wie er im Nachhinein meint. Und dennoch stürzt er in eine Krise: Nach nur einem Jahr kehrt er der Schweiz den Rücken und kehrt nach Trausnitz zurück. "Ich hatte keinen Bock mehr", sagt Michael. "Immer an den Wochenenden arbeiten, immer in der Hitze, immer im Stress". Das wollte er nicht mehr.

Michael ist mit seiner Entscheidung in guter Gesellschaft. Viele, die Koch werden wollen, halten weniger lange durch als er. Nach dem aktuellen Berufsbildungsbericht bricht jeder zweite Kochlehrling seine Ausbildung ab. In der gesamten Branche herrscht Nachwuchsmangel. Gewerkschaften machen das niedrige Gehalt und die schlechten Arbeitsbedingungen als Hauptgründe aus.

"In Deutschland kriegst du durchschnittlich 1300 Euro netto im Monat", sagt Michael. "Was willst du damit anfangen?" Die Wohnung müsse ja auch noch bezahlt werden. "Da hast du kaum was zum Leben." In der Schweiz, da habe sich die Arbeit als Koch gelohnt. "Dort verdienst du mehr als doppelt so viel", sagt Michael. Er selbst habe mehr als 4000 Franken (3500 Euro) brutto für die Arbeit als Jungkoch bekommen, und dazu noch ein günstiges Zimmer vom Arbeitgeber. Kollegen von ihm heuern des Gehalts wegen auch auf Kreuzfahrtschiffen an oder sie gehen in die Vereinigten Arabischen Emirate.

In Trausnitz beginnt der damals 20-Jährige noch einmal von vorne. Er startet eine Ausbildung zum Automobilkaufmann. Doch nach wenigen Monaten bricht er ab. Weil die Arbeit einfach nicht zu ihm passe, sagt er. Danach arbeitet er als Briefträger. Eine schöne Arbeit, findet er. "Ich mag das Rumfahren und die Bewegung." Aber soll er das für immer machen? Michael überlegt, wieder wegzugehen. Vielleicht in eine Großstadt ziehen, wie einige seiner Freunde? Vielleicht wieder in die Schweiz? In dieser Situation stirbt der Vater, und die wirtschaftliche Existenz der Familie steht auf dem Spiel.

Die Familie hätte schon überlegt, ob sie nicht aufhören wollen, erzählt Michael. "Aber kaufen würde das hier niemand", sagt er und meint damit hauptsächlich die Lage des Gasthofs in der ostbayerischen Provinz. Und verpachten wollten sie den Gasthof auch nicht. "Es geht ja immer um den Ruf des Hauses", sagt er. "Wenn du einen Pächter hast, der schlecht kocht, dann ist der Ruf verkorkst." Das bleibe am Gasthaus hängen, selbst wenn es irgendwann einen neuen Pächter gebe. "Die Leute merken sich das, die siehst du nie wieder."

Also geht Michael wieder an den Arbeitsplatz, dem er eigentlich entfliehen wollte. Statt Feinschmecker-Menüs für 100 Euro heißt es nun aber Kalbsbraten für 12,90 Euro. Zunächst machte er das hauptsächlich aus Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Familie, seinen Gästen und Mitarbeitern. Das Landhaus ist einer der größten Arbeitgeber in der strukturschwachen Gemeinde. Durch den Zuspruch und das Lob von allen Seiten habe er dann wieder die Leidenschaft für seinen Beruf entdeckt, sagt er.

Der junge Gastwirt versucht, das Gemeindeleben anzukurbeln, etwa durch einen Schafkopf-Stammtisch jeden Mittwoch. Er setzt sich selber gern zum Kartenspielen dazu. Das machte er schon, als er ein kleiner Junge war und sein Opa noch das Wirtshaus führte. Gleichzeitig profitiere er aber auch von der guten Dorfgemeinschaft, sagt Michael. "Hier kennt wirklich jeder jeden." Die Vereine kommen gern, wenn es etwas zu feiern gibt. Jeder lobt das gute Essen. "Hier kann ich die Hochzeiten länger spielen lassen, ohne dass sich jemand beschwert", sagt er. Auch da mischt er sich gern unter die Gäste, wenn er in der Küche aufgeräumt hat. Bei der Hochzeit am Vortag hat er um vier Uhr morgens noch ein paar Kurze mit den letzten Gästen geleert und dann zugesperrt.

Erst mal weiter wie bisher

Als Michael an diesem Morgen nach fünf Stunden Schlaf etwas lädiert in die Küche kommt, muss er sich einen spitzen Spruch seiner Mutter anhören. Aber sie habe schon Verständnis für ihn, sagt der junge Gastwirt. "Arbeit und Freizeit, das vermischt sich hier." Seit dem Tod des Vaters seien seine Mutter, seine Schwester und er eng zusammengewachsen.

Ideen, wie man das Landhaus weiterentwickeln könnte, haben sie genug: "Ich würde gerne den Saal größer machen, damit ich auch Hochzeiten mit 200 Gästen nehmen kann." Momentan sei bei 140 Gästen Schluss Aber für den Ausbau gibt es auf dem Grundstück eigentlich keinen Platz. Seine Mutter würde gerne ein paar Fremdenzimmer im oberen Stockwerk einrichten. Doch wie sie das mit der vorgeschriebenen Feuertreppe lösen sollen, wissen sie noch nicht.

So soll es erst mal weiterlaufen wie bisher. Arbeit haben sie ja genugmit den Veranstaltungen und dem normalen Restaurantbetrieb. "Ich bin schon stolz darauf, dass wir das so gut hinbekommen", sagt Michael. Er sei zwar für seinen Geschmack zu früh in die Fußstapfen des Vaters getreten, doch sie passen ihm: Die Schuhe, mit denen er gerade durch die Küche läuft, gehörten einst seinem Vater.

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Quelle:
SZ vom 15.09.2018
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