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Führungskräfte:Warum Chefs fast immer ungeeignet sind

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Fachlich inkompetent, menschlich sowieso: Mitarbeiter urteilen oft hart über Vorgesetzte. Ganz von allein werden die allerdings nicht zu besseren Führungskräften.

Von Larissa Holzki

Beschwerden unter Kollegen sind so üblich wie der Morgengruß im Fahrstuhl. Der (oder die) Vorgesetzte hat keinen Schimmer, was die Mitarbeiter jeden Tag tun, kein Verständnis für die technischen Details und erst recht keine Vorstellung davon, wie viel Mehrarbeit es bedeutet, Änderungswünsche umzusetzen.

Auch Freunde schimpfen, Verwandte beklagen sich. Man kann den Eindruck gewinnen, Führungskräfte in Deutschland seien grundsätzlich unqualifiziert, inkompetent und überfordert. Oder sind Mitarbeiter nicht in der Lage, ihre Vorgesetzten richtig zu bewerten? Erwarten sie, sobald sie sich unterordnen sollen, Unmögliches?

Bei der Frage, ob der- oder diejenige der Richtige für diesen Job ist, gehen Mitarbeiter von ihrer eigenen Situation aus: Weiß der, was ich jeden Tag leiste? Kennt die sich mit meinem Fachgebiet aus? Würde eine andere Führungskraft den Stellenwert meiner Abteilung höher einschätzen? Angestellte machen sich in einem Arbeitsverhältnis abhängig. Im Gegenzug wollen sie sich auf die da oben verlassen können, vor allem wenn es darum geht, ihre Arbeitsplätze und auch ihr gesellschaftliches Ansehen zu sichern. Führungskräfte sollen Alleskönner und Alleswisser sein.

In der Stellenbeschreibung einer Führungskraft steht davon freilich nichts. Trotzdem muss sie sich an diesen Erwartungen messen lassen. In jeder Organisation gibt es neben schriftlichen Vereinbarungen informelle Verhaltenserwartungen, die die Zusammenarbeit regeln. Sie sind mit bestimmten Rollen im Unternehmen verknüpft. Ein Lehrling beispielsweise hat sich von erfahrenen Mitarbeitern korrigieren zu lassen. Solche Erwartungen werden meist nicht ausgesprochen, gelten für alle Personen in der Organisation aber als selbstverständlich.

Erwartungen und Anforderungen passen nicht mehr zusammen

Zuweilen passen die Erwartungen allerdings nicht mit der Realität der modernen Arbeitswelt zusammen, sagt der Arbeitswissenschaftler Guido Becke. "Erwartungshaltungen entwickeln sich historisch", erklärt der Sozialforscher der Uni Bremen. Sie verändern sich nicht so schnell wie die Unternehmen selbst. Viele ungeschriebene Gesetze in den Beziehungen zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten sind entstanden, als die Zukunft über Jahrzehnte planbar, eine Anstellung eine Vereinbarung fürs Leben war.

In einem traditionellen Familienunternehmen gilt vieles heute wie damals: Von den Nachkommen der Gründer wird erwartet, dass sie den Fortbestand des Unternehmens sichern, neue Aufträge ranholen, fürsorglich gegenüber den Beschäftigten sind und die zentralen Entscheidungen treffen. Sie werden auch deshalb anerkannt, weil sie als Mitglieder der Gründerfamilie wie niemand sonst Zugang zu Know-how aus erster Hand haben. Je tiefer eine Organisationskultur verankert ist, desto mehr Gültigkeit haben traditionelle Rollenbilder.

Die äußeren Bedingungen für Beschäftigungsverhältnisse haben sich jedoch radikal verändert. "Die Dynamik und Komplexität von Führungsverantwortung wird unterschätzt", sagt Becke. Manager von internationale Konzernen, Familienunternehmer, die sich in Marktnischen behaupten sowie Gründer von Start-ups können mehr oder weniger plötzlich damit konfrontiert werden, dass Strafzölle verhängt werden, Roboter die Produktion übernehmen, im Netz Konkurrenz aus Nairobi aufploppt oder Mitarbeiter zum Wettbewerber nach Tokio wechseln wollen. Außerdem sind sie nicht länger nur für die Mitarbeiter verantwortlich: "Ob jemand erfolgreich ist, wird heute auch an gesellschaftlichen Erwartungen gemessen", sagt Guido Becke.

Geschäftsleute müssen heute ethisch und umweltschonend wirtschaften - nicht immer lässt sich das mit den Bedürfnissen der Beschäftigten vereinbaren, die an ihren Arbeitsplätzen klammern. Das zeigt sich beispielsweise bei Energiekonzernen, die zum Ausstieg aus der Kohleindustrie gedrängt werden. Andererseits müssen auch Mitarbeiter fürchten, im privaten Umfeld mit Verfehlungen und Betrugsversuchen ihres Unternehmens konfrontiert zu werden. Wer will schon für einen Konzern arbeiten, der seine Kunden anschwindelt?

Auch wenn es naheliegt, dass Angestellte Bewertungsmaßstäbe heranziehen, die ihnen zur Verfügung stehen, dass sie die Fachkenntnisse des Chefs also mit den eigenen vergleichen: Je weiter einer aufsteigt, desto weniger muss er den Job der Angestellten beherrschen. Führungskräfte müssen managen, moderieren, entscheiden - für das Fortbestehen des Unternehmens kann es sogar existenziell sein, dass sie die Perspektive des Einzelnen wegschieben.

Woran erkennt man also den Chef oder die Chefin mit Erfolgspotenzial? Nachgefragt bei Menschen, deren Blick nicht durch die Brille des Betroffenen verschwimmt und die das beruflich wissen müssen - einem Karriereberater, einem Managementexperten und einer Headhunterin. Die Antworten wiederholen sich: Führungskräfte brauchen Zielstrebigkeit und Mut, unter unsicheren Bedingungen Entscheidungen zu treffen. Sie müssen auf unwägbare Entwicklungen reagieren können und mit Experten vernetzt und vertraut sein, die sie um Rat bitten können. Genauso wichtig ist die Fähigkeit, andere zu überzeugen - sowohl innerhalb als auch außerhalb des eigenen Unternehmens.

Wie schwierig es ist, jemanden zu finden, dem man das zutraut, zeigte jüngst die Suche nach einem neuen Chef der größten deutschen Bank: "Ein Chef der Deutschen Bank muss sich bei Dax-Konzernen präsentieren können, beim Mittelstand gut ankommen und in der Filiale", sagt Personalberaterin Nicola Sievers. Im Fall des Auserwählten Christian Sewing zweifelten Großaktionäre und Investoren sogleich, ob er denn hart genug durchgreifen könne: Sewing hat seine Berufslaufbahn in einer Bielefelder Filiale der Deutschen Bank begonnen und fühlt sich den Mitarbeitern im Privatkundengeschäft verbunden. Er ist bei ihnen beliebt - und nun vielleicht genau der Richtige, um zu vermitteln, dass Tausende Stellen abgebaut werden müssen.

Headhunterin Sievers hat sich auf Führungskräfte im Finanzsektor spezialisiert und ist dafür bekannt, auch mal branchenfremde Kandidaten vorzuschlagen. Viele Anforderungen hätten mit den inhaltlichen Aufgaben nichts zu tun, ist ihre Auffassung - Disziplin, Fleiß und Belastbarkeit zum Beispiel. Die Führungskräfte müssten vorleben, was sie einfordern, sagt sie. Und dann nennt sie noch eine Tugend, die in der öffentlichen Wahrnehmung eher rar ist unter Bossen: Demut.

Wann Angestellte freiwillig tun, was der Chef sagt

Warum es aber entscheidend ist, dass sich eine Führungskraft nicht so wichtig nimmt, kann Nale Lehmann-Willenbrock erklären. Die Arbeitspsychologin untersucht an der Universität Hamburg, wann Mitarbeiter ihren Vorgesetzten folgen: "Wenn Führungskräfte dazu stehen, dass sie nicht alles wissen können, bekommen sie eher Verständnis und Unterstützung", sagt sie. Neben den traditionellen Rollenerwartungen sind es auch die höheren Gehälter, die dickeren Autos und bequemeren Sessel, die dem Führungspersonal solch ein Bekenntnis erschweren. Sie schmeicheln dem Ego der Führungskräfte, die sich ganz gern als Alleskönner sehen würden, sie erheben sie über die Mitarbeiter. Das aber steht der erfolgreichen Führung im Weg.

Der soziale Einfluss einer Führungskraft müsse als solcher akzeptiert und angenommen werden, sagt Lehmann-Willenbrock. Entscheidend ist ein ständiger Prozess von Geben und Nehmen. Nur wenn Menschen darauf vertrauen, dass ihr Einsatz wertgeschätzt wird, opfern sie auch eigene Ziele. Sie lassen dann vielleicht eher von ihrem eigenen Prestigeprojekt ab und handeln häufiger im Sinne des Teams - mit der Erwartung, dass der Vorgesetzte ihnen dieses Verhalten bei Entscheidungen über Beförderungen und Belohnungen ebenso anrechnet.

Langfristig ist deshalb eine Eigenschaft für einen guten Chef zentral, die für Angestellte nur schwer einzuschätzen ist, wenn sie eine neue Führungskraft vorgesetzt bekommen oder sich für einen neuen Arbeitgeber entscheiden: Integrität. Versprechen zu brechen und Vertraulichkeiten auszuplaudern sei tabu, sagt die Hamburger Psychologin. Für implizite, unausgesprochene Verträge gilt das analog.

Aber nicht nur die Chefs müssen auf die Mitarbeiter zugehen, wenn Führung in modernen Arbeitsstrukturen gelingen soll. Mitarbeiter müssen bereit sein, Verantwortung mitzutragen, eigenständig nach Lösungen für Probleme zu suchen und Verbesserungsvorschläge selbstbewusst vorzutragen. Auch sie müssen sich von alten Rollenbildern verabschieden, die sie vor vielen schwierigeren Aufgaben geschützt haben.

"Angestellte verhalten sich oft wie kleine Kinder", sagt die Mediatorin Marion Lemper-Pychlau, immer seien die Vorgesetzten schuld. "Der Chef ist doch nicht dafür verantwortlich, dass ihre Arbeit sie glücklich macht", sagt sie. Den Mut, Kritik offen auszusprechen, hätten die wenigsten. Dabei wären offene Worte so nötig, um den Mythos vom Alleskönner zu beenden und die Beziehungen zwischen Chefs und Mitarbeitern zu verbessern.

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