Frage an den SZ-Jobcoach:Wie bewerbe ich mich ohne Zeugnisse?
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Petra P. hat 20 Jahre lang einen kleinen Handwerksbetrieb geführt und sich von der Buchhaltung bis zum Verkauf alles selbst beigebracht. Nun musste sie die Firma verkaufen und steht ohne Zeugnisse und Referenzen da. Wie soll sie sich bewerben?
SZ-Leserin Petra P. fragt:
Ich bin 50 Jahre alt und habe 20 Jahre lang einen Handwerksbetrieb mit sieben Arbeitern geführt. Den Betrieb, in dem ich auch meine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht habe, hat mein Vater mir übertragen. Ich habe dort alles gemacht: Buchhaltung, Löhne, Verkauf, Aufmaß, Auftragsbearbeitung, Baustellenüberwachung, Werkstatt, Lagerhaltung, was eben anfiel. Fast alles habe ich mir selbst beigebracht. Nun habe ich die Firma verkauft, weil es mir zu viel wurde und ich keine Lust mehr hatte. Was genau ich machen will, weiß ich noch nicht. Aber selbst wenn ich es wüsste, wie soll ich mich bewerben? Ohne Zeugnisse? Ohne Referenzen? Ohne Weiterbildungen?
Vincent Zeylmans antwortet:
Liebe Frau P., Sie können mit Stolz darauf zurückblicken, dass Sie 20 Jahre lang einen Betrieb erfolgreich geführt haben. Jeder Arbeitgeber weiß, dass dies eine exzellente Leistung ist. Sie haben Aufträge akquiriert, die Abarbeitung sichergestellt, Personal geführt und in allem wirtschaftlich gehandelt. Sie haben Gewinne ausgewiesen und Ihr Unternehmen anschließend verkauft. Ihre Erfolge lassen sich nachweisen. Jahresabschlüsse liegen Ihnen vor, erledigte Kundenaufträge und Referenzprojekte. Sie können Lieferanten nennen und Kalkulationen zeigen. Das ist im Zweifelsfall mehr wert als ein Zeugnis mit Standardfloskeln.
Sie sollten sich klarmachen, dass Arbeitgeber Ihnen nicht misstrauisch gegenüberstehen. Sie haben eine Position zu besetzen und suchen dazu die Person mit den entsprechenden Kompetenzen. Im Gespräch stellt sich rasch heraus, ob Sie sich für die Stelle eignen. Dabei spielt auch Sympathie eine Rolle.
Im Übrigen: Auch andere Bewerber können kein Zeugnis vorlegen. Zum Beispiel, weil sie sich im ersten Job befinden und kein Zwischenzeugnis beantragen wollen, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Ohnehin bestätigen Zeugnisse meistens nur den Eindruck, den ein Personaler sich bereits von dem Kandidaten gemacht hat. Nur in Ausnahmefällen sind sie ausschlaggebend für die Einstellung oder Ablehnung.
Wichtiger ist Ihre Überlegung, was Sie beruflich machen wollen. Wer viele Erfahrungen gesammelt hat, muss sich fokussieren. Fragen Sie sich, welche Tätigkeiten Ihnen am besten gefallen haben! Was hat Sie am meisten motiviert? Wo haben Sie Ihre Fähigkeiten optimal unter Beweis gestellt? Sie können sich für ein Aufgabengebiet entscheiden, beispielsweise Akquisition. Vielleicht gefiel Ihnen das Prozessmanagement besser. Bei der Beantwortung dieser Frage kann Ihnen auch ein Jobcoach helfen, der mögliche Suchprofile mit Ihnen definiert.
Wenn Ihnen klar ist, in welcher Funktion Sie wieder einsteigen möchten, können Sie verschiedene Wege gehen. Natürlich sollten Sie den Stellenmarkt beobachten. Aber auch eine proaktive Vorgehensweise ist empfehlenswert. Kontaktieren Sie geeignete Unternehmen mit einer Initiativbewerbung! Mit Ihrem Kompetenzprofil machen Sie bei Business-Netzwerken oder Karriere-Portalen auf sich aufmerksam. Oder setzen Sie sich mit Personalüberlassungsunternehmen in Verbindung. Viele von ihnen beschäftigen mittlerweile Mitarbeiter, die ausschließlich Positionen in einem festen Angestelltenverhältnis besetzen.
Die gute Nachricht: Deutschland ist erfolgreich und sucht kompetente Mitarbeiter. Die sind zunehmend Mangelware. Immer weniger Unternehmen leisten es sich, qualifizierte Kandidaten wegen fehlender Zeugnisse oder fortgeschrittenen Alters zu ignorieren.
- Vincent Zeylmans war jahrelang Abteilungsleiter in internationalen Konzernen. Deren Rekrutierungspolitik kennt er daher aus der Praxis. Heute lebt er als Buchautor, Führungskräftecoach und Managementtrainer in Emmerich am Rhein.
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