Süddeutsche Zeitung

Erziehungsmethoden:Der Herr straft, wen er liebt

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Wie war das eigentlich damals, in den fünfziger Jahren, als Kindern der Teufel aus dem Leib geprügelt wurde und niemand - auch nicht die Patres eines Benediktinerklosters - den Nutzen des Schindens in Zweifel zog?

Hermann Unterstöger

Ob Prügel davon leichter werden, dass sie eine theoretische Rechtfertigung mit sich führen, bleibt dahingestellt. In jener Zeit, von der hier kursorisch die Rede sein soll (es waren die fünfziger Jahre, und die biblische Ausleihe "In jener Zeit" mag andeuten, wie unendlich weit das alles zurückliegt) - in jener Zeit also wurde man, auf dem Gymnasium jedenfalls, auf eine durchaus gebildete Art geprügelt.

Das Gymnasium betrieben die Patres eines niederbayerischen Benediktinerklosters, und die hatten für körperliche Erziehungsmaßnahmen eine doppelte Begründung auf Lager.

Den Vorrang hatte verständlicherweise die religiöse Variante. Bei jeder Gelegenheit - und der Gelegenheiten waren viele - wurde vor der Abstrafung darauf verwiesen, dass der Herr den straft, den er liebt, was wahlweise dem Buch der Sprüche oder dem Brief Pauli an die Hebräer zu entnehmen ist.

Das konnte so vonstatten gehen, dass der Mönch, in aller Regel der Präfekt oder einer aus dem Lehrkörper, den unbotmäßigen Buben an den Schläfenhaaren alias "Schmalzfedern" peu à peu in die Höhe zog und bei jeder Stufe einen Teil des Bibelworts zitierte: "Wen - der Herr - liebet - den - das merkst dir - züchtiget - er." Uns imponierten zwar die alten Endungen in "liebet" und "züchtiget", aber wir hätten es doch vorgezogen, wenn der Herr uns etwas weniger geliebet hätte.

Der Blitz schlug öfter bei ihm ein

In Griechisch hatten wir den Direktor des Seminars, einen Mann von ebensolcher Grimmigkeit wie Ungerechtigkeit. Seine Lieblinge hatten es gut, besonders wenn sie über Eltern verfügten, die dann und wann mit einer Cremetorte anrückten. Wer arm war oder gar auf einem der wenigen Freiplätze saß, musste auf der Hut sein.

Der Blitz schlug öfter bei ihm ein, als dies nach der Strafstatistik hätte geschehen dürfen, selten ohne den iambischen Trimeter, wonach ein Mensch, der nicht geschunden wird, auch nicht erzogen wird. Den gab es auf Altgriechisch zur "Kopfnuss" oder zum Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, und was man davon ins Leben mitnahm, war das Wissen, dass der fatale Sinnspruch aus Menanders "Monostichen" war und dass dérein, das griechische Wort für schinden, irgendwie unregelmäßig konjugiert wird. War es das wert?

Um nochmal biblisch zu raunen: Da in jener Zeit der Nutzen des Schindens für die Erziehung von kaum jemandem angezweifelt wurde, am wenigsten von den eigenen Eltern, hatten in diesem System sogar die Exzesse ihren möglicherweise dubiosen, aber letztlich doch legitimen Platz.

In der Volksschule bei uns auf dem Dorf, einer im Übrigen sehr effektiven Zwergschule, gab es einen Lehrer, der im Krieg einen Kopfschuss abbekommen hatte. Es ging die Rede, dass er unter dem Bürstenhaar eine Silberplatte trage, die ihm, wenn die Sonne draufbrenne, große Pein mache, ja die ihn schier in den Wahnsinn treibe. Wie immer sich das verhalten haben mochte, der Mann war tatsächlich oft wie ausgewechselt, und wer ihm da in die Quere kam, der konnte, wie man auf dem Land sagte, "Reue und Leid erwecken". Dazu war aber in der Regel keine Zeit, denn Lehrer H. drosch die Kinder, nach einer anderen Redensart, "durch Sonne und Mond", eine Raserei, von der er später nichts mehr zu wissen schien. Dass wir Kinder den Mann sehr mochten, sei dabei auch noch zu Protokoll gegeben.

Gegen die Prügelstrafe, speziell gegen die allgegenwärtigen Tatzen, gab es eine Art Naturheilmittel, nämlich die uralte und durch Karl-May-Lektüre immer erneuerte These, dass der Indianer keinen Schmerz kennt, das heißt: ihn sich nicht anmerken lässt. Den Schmerz vertrieb dieses völkerkundliche Aperçu zwar in keiner Weise, aber man stand, wenn man es beherzigte, im Kreis der Kameraden besser da als einer, der zusammenzuckte oder womöglich sogar heulte.

Wogegen kein Kraut gewachsen war, das waren Torturen seelischer Art, die unstrittig gut gemeint waren, die aber dessen ungeachtet eine gewaltige Verwüstung anrichteten. Im Franziskushaus Altötting, einer von Mallersdorfer Schwestern betreuten und unter Buben seinerzeit sehr gefürchteten Einrichtung des Seraphischen Liebeswerks, wurde dem Verfasser dieses kleinen Abrisses einmal eine bedrückende Belehrung zuteil. Da er es mit dem Schneuzen nicht sonderlich genau nahm, bekam er vom Nikolaus einen riesigen Latz umgehängt, auf dem ein Bub zu sehen war, der die Rotzglocke mit der Zunge auffing. Darunter stand "Mir schmeckt's!", und mit diesem Ding musste der Siebenjährige ein paar Tage Spießruten laufen. Er vergrub es schließlich eines nebeligen Abends im Misthaufen der hauseigenen Ökonomie und kassierte für die Ausflucht, der Latz sei ihm wohl gestohlen worden, von der Nonne noch ein paar saftige Watschen.

Es schien unter Pädagogen dieser Zeit die Meinung vorzuherrschen, dass sich hinter Fehlleistungen nicht so sehr kindliche Schwäche verbirgt als vielmehr Böswilligkeit. Allenthalben sah man den Satan am Werk, beispielsweise bei einem Buben, der zweimal vor Heimweh aus dem Seminar entwich, wofür er das volle Programm an Vorwürfen, Prügeln und Prangerstehen bezog. Er wurde zum Bettnässer, in dessen Schlafsaalecke es keiner aushielt, und kann Gott danken, dass ihn seine Eltern über eine Weile nach Hause holten.

Bei einem anderen ging das weniger gut aus. Der Knabe wurde auffällig, weil seine Schrift immer schlechter wurde und weil er überdies die Linien des Schreibhefts nicht korrekt einhalten konnte. Man nannte ihn alles Mögliche, gab ihm Kopfnüsse ohne Ende, stieß ihn auch mit dem Kopf aufs Schreibpult. Auf die Idee, einen Arzt oder wenigstens den durchaus versierten Krankenbruder zu Rate zu ziehen, kam jedoch niemand. Der Tumor, der im Gehirn des Kleinen saß, brachte die Sache auf seine Art zum Abschluss.

Solche Ereignisse legten sich wie Wolken über den Seminaralltag. Man rückte dichter zusammen, und wenn die Erinnerung nicht trügt, waren die Patres danach auch erkennbar milder. Das gab sich aber bald, und zur Illustration dessen, wie man erzieherisch in die Knaben hineinwirkte, sei ein weiteres eigenes Erlebnis nachgereicht.

Da hatte also der Schüler U. in den Ferien ein paar Verse von der Kategorie "Goethe sagt zu Schiller: Der Schoaß ist ein Getriller" eingeflüstert bekommen, und nichts erschien ihm dringlicher, als diese Verse nun im Schlafsaal zum Besten zu geben, der Gaudi halber und gewiss auch zur eigenen Verherrlichung.

Entweder heiß oder kalt

Sein Vortrag war kaum zu Ende, als der Präfekt, der sich die Verse von draußen angehört hatte, eintrat und sagte: "So, und du gehst jetzt in mein Zimmer und holst den Stock." In seiner Verzweiflung kam U. nach einiger Zeit mit leeren Händen zurück: Da sei kein Stock. "Das wollen wir doch sehen", sagte daraufhin der Präfekt, und als er seinerseits zurückkam, hatte er den derben Knotenstock dabei. Es gab zwanzig auf den nackten Hintern, und da der Präfekt auch Turnlehrer war, fielen sie so aus, dass sie so schnell nicht zu vergessen waren.

Der Indianer U. hat, als die anderen schon längst wieder schliefen, die Nacht durchgeheult, und wenn er bis heute Einläufe hasst, so führt er das auch auf jene Nacht mit Goethe, Schiller und dem Präfekten zurück. Öfter als sonst wurde er danach mit der Bibelstelle konfrontiert, wonach er entweder heiß oder kalt sein müsse, widrigenfalls er, als lau, aus dem Mund des Herrn ausgespien werden müsse.

Bald danach wurde er, wenn nicht aus dem Mund des Herrn, so jedenfalls aus dem Seminar ausgespien und war sehr glücklich über dieses alles in allem doch sehr famose Schriftwort.

PS: Als er Jahre später das Kloster in einer anderen Angelegenheit aufsuchte, brachte ihm der nämliche Präfekt nachts ein paar Birnen aufs Zimmer: "Damit'st uns net verhungerst."

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SZ vom 14.04.2010
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