Süddeutsche Zeitung

Wahrnehmung des Ungeborenen:Geheime Welt im Mutterleib

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Melodien, Sprache, Gefühle: Ein Kind im Mutterleib nimmt vieles wahr - doch nicht immer so, wie Eltern sich das vorstellen.

Von Katrin Neubauer

Kann das Baby im Bauch uns hören? Was fühlt es, wenn wir streiten? Schmeckt es den Knoblauch nach einem Essen? Und warum strampelt es, wenn ich mich länger nicht bewegt habe? Vermisst es vielleicht den schaukelnden Gang meiner Füße? Solche Fragen beschäftigen werdende Mütter - und auch Väter. Sie wollen, dass das Baby sich im Bauch wohlfühlt, um gute Voraussetzungen für die Welt draußen zu haben.

Doch das Geheimnis, was ein Ungeborenes im Bauch der Mutter wahrnimmt und wie sich diese Erlebnisse auf sein weiteres Leben auswirken, ist schwer zu lüften. Sicher ist: Mit der Entwicklung des Hörsinns verfügt der Fötus zum Ende der Schwangerschaft über eine Art Standleitung nach draußen.

"Etwa ab der 25. Schwangerschaftswoche ist das Gehör ausreichend entwickelt, so dass Geräusche von außen gehört werden können", sagt der Neurologe Matthias Schwab, Leiter der AG Fetale Hirnentwicklung und Programmierung von Krankheiten am Universitätsklinikum Jena. Das Baby hört jedoch vor allem Geräusche, die durch das Atmen, den Darm und Kreislauf der Mutter erzeugt werden. Sie erreichen in tieferen Frequenzen einen Pegel von 90 Dezibel. Das ist mit Verkehrslärm vergleichbar.

Das Ungeborene kann deshalb nur dann Töne von außen wahrnehmen, wenn sie lauter als die Hintergrundgeräusche des mütterlichen Körpers sind. "Der Fetus hört hauptsächlich die niederfrequenten Komponenten von Sprache und Musik", erläutert Schwab. Gut wahrnehmbar sind demzufolge Bässe, wie tiefe Männerstimmen oder Rockmusik - und weniger Mozart. "Allerdings hören sich Töne durch das Fruchtwasser verzerrt und verschwommen an, eben wie wenn man den Kopf unter Wasser hält", erläutert der Neurologe. Die Stimme der Mutter bildet dabei eine Ausnahme, das Kind nimmt sie über die sogenannte Knochenleitung wahr.

"Das Ungeborene mag die Musik, die die Mutter mag, um sich zu entspannen. Davon profitiert das Baby indirekt, weil die Mutter weniger Cortisol ausschüttet", sagt Schwab. Von dem Stresshormon kommen beim Kind etwa zehn Prozent an.

An manche der Melodien scheinen sich Babys nach der Geburt zu erinnern, wie in Untersuchungen in Finnland gezeigt wurde. Forscher spielten Müttern im letzten Schwangerschaftsdrittel fünf Mal pro Woche das englische Gute-Nacht-Lied "Twinkle, twinkle little Star" vor. Das Procedere wurde nach der Geburt der Babys und im Alter von vier Monaten wiederholt. In einer Gruppe wurde die Melodie leicht abgeändert. Eine weitere Kontrollgruppe erhielt keinerlei musikalische Stimulierung. Bei den Babys, denen die ungeänderte Melodie später vorgespielt wurde, maßen die Forscher im Elektroenzephalogramm (EEG) eine stärkere Hirnaktivität als bei den beiden anderen Gruppen. Das zeige, dass sich Babys zumindest einige Monate an häufig gehörte Melodien im Bauch "erinnern" können, so das Fazit der Forscher.

Auch für Sprachmelodien scheinen Babys eine Art Gedächtnis zu haben. "Das Märchen von Rumpelstilzchen hat eine andere Phonetik als Schneewittchen. In Studien zeigten Babys durch intensiveres Saugen am Nuckel, welche Geschichte ihnen aus der vorgeburtlichen Zeit vertraut war", sagt der Entwicklungspsychologe und Mediziner Ludwig Janus, der sich seit Jahrzehnten mit vorgeburtlichem Erleben beschäftigt.

Eine entscheidende Rolle für das Gedächtnis spielt offenbar der Traumschlaf, der sich gegen Ende der Schwangerschaft entwickelt. Im Traumschlaf ist das Gehirn am aktivsten, noch aktiver als im Wachzustand. Eine hohe Hirnaktivität fördert die Bildung von Synapsen, die Voraussetzung für Erinnerung und Lernprozesse sind. "Die Entstehung von Tief- und Traumschlaf ist ein Meilenstein der Hirnentwicklung", sagt der Neurologe Schwab.

Ab der 29. Woche entwickelt sich der Geschmacksinn, so dass das Kind den Geschmack mütterlicher Nahrung aus dem Fruchtwasser mitbekommt. In Experimenten mit Saccharin-Injektionen hat sich gezeigt, dass Süßes bereits im Mutterleib bevorzugt wird. Etwa ab der 32. Woche kann der Fetus sehen. Bei Sonnenlicht soll die Gebärmutter in samtig rotes Licht getaucht sein

Aus wissenschaftlichen Studien ist auch bekannt, dass Kinder schon lange vor der Geburt auf Stress und Schmerz reagieren. "Ultraschalluntersuchungen zeigten zum Beispiel, dass Feten, deren Mütter große Angst hatten, in einer Ecke der Gebärmutter saßen, so als ob sie die Angst miterlebten", sagt Janus. Inwieweit sich Ungeborene an Sinneseindrücke im Mutterleib auch später im Leben noch erinnern, inwieweit sie das langfristig beeinflussen kann, ist umstritten. Manche Psychologen sind überzeugt, dass Eindrücke aus dem vorgeburtlichen Leben bestehen bleiben.

Doch unabhängig davon gilt: Die stärkste Prägung findet später statt. "Die neuronalen Netzwerke reifen im Wesentlichen nach der Geburt", sagt Schwab. "Was dann geschieht, hat viel größeren Einfluss aufs Kind als die Zeit im Mutterleib."

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