Süddeutsche Zeitung

Medizin:Die Gesundheit aller ist in Gefahr

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In den USA sinkt die Lebenserwartung - trotz extremer Ausgaben im Gesundheitssystem. Das könnte auch hierzulande passieren.

Kommentar von Werner Bartens

Die jährliche Meldung schien so etwas wie ein Naturgesetz zu sein. Selbstverständlich würde die Lebenserwartung in wohlhabenden Ländern kontinuierlich ansteigen. Derzeit liegt sie in Deutschland für Männer bei 78,4 Jahren. Frauen können damit rechnen, 83,4 Jahre alt zu werden. Im Jahr 2060, so die Prognose, liegt sie womöglich um weitere sechs Jahre höher.

Sicher ist eine solche Entwicklung keineswegs. In den USA ist die Lebenserwartung 2019 im dritten Jahr in Folge zurückgegangen. Eine große Analyse im Fachblatt JAMA hat das gerade gezeigt. Als Hauptursachen werden frühe Todesfälle durch die Opioid-Krise, Alkohol und Suizide angeführt. "Tod aus Verzweiflung" nennen Ärzte diese dunkle Triade.

Zusätzlich wird die Lebenserwartung durch Fettleibigkeit, Bluthochdruck und andere organische Leiden gesenkt. Die USA leisten sich das teuerste Gesundheitswesen der Welt. Die Bevölkerung ist aber nicht gesünder als anderswo. Im Gegenteil, nicht nur in der Lebenserwartung sind die USA im Vergleich zu anderen Industrieländern unteres Mittelmaß.

Patienten fühlen sich verloren. Aus dieser Floskel ist in den USA längst Realität geworden

Deutschland hat neben der Schweiz das teuerste Gesundheitswesen Europas. Trotzdem nimmt es - nicht nur wegen der geringeren Lebenserwartung - im europaweiten Vergleich einen Platz im hinteren Drittel ein, was die Gesundheit der Bevölkerung angeht. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt zwar noch, doch der Standard der Versorgung ist bedroht.

Der Mangel an Pflegepersonal und Fachkräften ist eklatant. Die Wartezeiten auf einen Termin beim Facharzt sind horrend. Zudem werden in Deutschland seit Jahren zu viele unnötige Eingriffe und Untersuchungen durchgeführt, Stichwort Übertherapie. Der Spitzenplatz in der Häufigkeit von Röntgenbildern und Operationen am Rücken, Kniespiegelungen, Herzkathetern und etlichen anderen Interventionen ist blamabel, denn er geht nicht mit einer besseren Gesundheit der Bevölkerung einher.

Noch sind die Zustände in Deutschland nicht wie in den USA, wo Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben. Doch die soziale Dimension der Medizin wird auch hier zu wenig beachtet. Die größte Gefahr für die Gesundheit geht schließlich von Armut und Ungleichheit aus, von Einsamkeit, fehlender Perspektive und unsicheren beruflichen Verhältnissen. Um diese wichtige Facette des Wohlergehens kümmert sich die Gesundheitspolitik gar nicht, auch die meisten Ärzte und Kliniken lassen die Menschen damit allein.

"Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen", hat Rudolf Virchow vor mehr als 150 Jahren geschrieben. Seine Erkenntnis ist aktueller denn je, droht aber immer mehr in Vergessenheit zu geraten.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019
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