Süddeutsche Zeitung

Diskussion über Praxisgebühr:Deutsche gehen seltener zum Arzt als gedacht

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Jahrelang dachte man, niemand würde so häufig den Doktor aufsuchen wie die Deutschen. Nun stellt sich diese Annahme als Fehlinterpretation der Statistiken heraus - und heizt die Debatte über die Praxisgebühr weiter an.

Guido Bohsem

Lange Zeit glaubte man, der Deutsche pflege zu seinem Arzt eine besonders innige Beziehung. Anscheinend wollte anderswo niemand so oft im Jahr den Doktor sehen wie die Leute hierzulande. Nun hat die Bundesregierung die bisher geläufigen Angaben zu den Arztbesuchen relativiert und damit auch die Diskussion über die Praxisgebühr angeheizt.

Zwar habe jeder Versicherte 2007 im Durchschnitt 17-mal Kontakt mit seinem Arzt gehabt, heißt es in einer Antwort der Regierung auf eine Anfrage der Grünen. Die hohe Zahl komme vor allem durch die Behandlung von schwer- oder chronisch Kranken zustande. "Etwa 16 Prozent der Patienten nehmen 50 Prozent aller Arztkontakte in Anspruch." Die Hälfte der Patienten habe weniger als elf Arztkontakte im Jahr.

Besonders oft würden die Ärzte von Patienten mit Organtransplantationen, Nierenversagen und chronischer Hepatitis konsultiert, heißt es unter Berufung auf das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI). Also von Patienten, die tatsächlich einer intensiven medizinischen Behandlung bedürfen. Auch durch eine andere Erkenntnis wird die hohe Zahl der Arztkontakte relativiert. Die Statistik zählt nämlich nicht nur die Male, in denen ein Patient die Praxis aufsucht. Zu den Arztkontakten gehören auch Telefongespräche oder das einfache Verlängern eines Rezeptes.

Die Annahme, dass die Deutschen wesentlich häufiger zum Arzt gingen als die Bürger anderer Länder, sei eine Fehlinterpretation, schreibt die Regierung. Im internationalen Vergleich sei die Zahl der Behandlungsfälle in Deutschland zwar hoch, bei weitem aber nicht so hoch wie angenommen. So habe die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei der Untersuchung von 33 Mitgliedsländern eine durchschnittliche Zahl von 6,5 Arztkonsultationen festgestellt. Für Deutschland stellten die OECD-Experten einen Wert von 8,2 Konsultationen fest, in Japan liegt er bei 13,2, in Chile bei 1,8.

Insgesamt relativiert sich jedoch die Annahme, dass die Deutschen nur deshalb so viel zum Arzt gingen, weil für sie dadurch keine direkten Kosten entstehen. Wenn er nur seinen Beitrag, aber keine direkten Zahlungen entrichten müsse, habe der Patient keine Hemmungen, sich auch bei kleineren Erkrankungen in Behandlung zu begeben, lautete das Argument.

Auf Grundlage dieser These führte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) für die rot-grüne Regierung 2004 die Praxisgebühr von zehn Euro im Quartal ein. Die Hoffnung war, die Zahl der Arztbesuche zu verringern. Dies ist allerdings nur am Anfang gelungen.

In der Koalition gibt es ein Patt in der Frage, ob die Praxisgebühr fallen soll. Die FDP fordert ihre Abschaffung, die Union will an ihr festhalten. Da keine Änderungen an der Gesetzeslage ohne Zustimmung aller Koalitionspartner möglich sind, wird die Gebühr also auch in Zukunft weiter erhoben werden.

Nach Grünen und Linken hat sich nun auch die SPD dafür ausgesprochen, die Praxisgebühr abzuschaffen. Im Entwurf eines Fraktionsantrags fordern die Sozialdemokraten, die Gebühr ersatzlos zu streichen. Ihre Steuerungswirkung sei diffus geblieben, und auch das erzielte Finanzvolumen von etwa zwei Milliarden Euro im Jahr sei bescheiden.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach attestiert der Gebühr sogar eine schädliche Wirkung. Laut Statistik halte sie lediglich die Empfänger von Arbeitslosengeld II und Obdachlose vom Besuch eines Arztes ab, andere Gruppen in der Bevölkerung aber nicht. "Dadurch ist eine Bürokratie mit Nebenwirkungen entstanden", sagte Lauterbach.

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SZ vom 20.03.2012
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